Erzwungener Wachstumsstop durch Lockdown – ein vorsichtiges Zwischenfazit

Der 1949 geborene französische Philosoph und Soziologe Bruno Latour veröffentlichte am 29. März 2020, noch in den Anfängen der Corona Pandemie, einen Fragebogen mit sechs Fragen (hier als Download). Ihm ging es dabei um die Erhebung von Aktivitäten, deren Einschränkung infolge der Krise/des Lockdowns von den Befragten als wesentlicher Verlust empfunden werden.

Und er möchte, die seiner Meinung nach vorhandenen Spielräume für einen Kurswechsel in der gegenwärtigen Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik ausloten. „Mit anderen Worten, lassen Sie uns die erzwungene Unterbrechung der meisten Aktivitäten nutzen, um eine Art Bestandsaufnahme zu machen.“ Bruno Latour will „… zunächst für sich selbst und dann als Gruppe … beschreiben, woran wir gebunden sind; wovon wir bereit sind, uns zu befreien; welche Ketten wir bereit sind, wieder aufzubauen und welche wir durch unser Verhalten unterbrechen wollen.“

Wachstumsstopp durch Lockdown

Zur allgemeinen Ausrichtung und den sechs Fragen im Einzelnen

„Es geht darum, eine Liste der Aktivitäten zu erstellen, die Ihnen durch die aktuelle Krise entzogen werden und deren Verlust Ihnen das Gefühl gibt, dass damit wesentliche Lebensgrundlagen verletzt werden. Geben Sie für jede Aktivität an, ob Sie wollen, dass sie unverändert (wie bisher) fortgesetzt, verbessert oder nicht fortgesetzt wird. …

Frage 1:

Welche der jetzt ausgesetzten Aktivitäten sollen nicht wieder aufgenommen werden?

Frage 2:

Beschreiben Sie, warum diese Aktivität Ihnen schädlich / überflüssig / gefährlich / inkohärent erscheint und wie ihre Abschaffung, Unterbrechung oder Substitution andere – von Ihnen geschätzte – Aktivitäten einfacher / kohärenter machen würde. (Schreiben Sie für jede der in Frage 1 genannten Aktivitäten einen eigenen Absatz).

Frage 3:

Welche Art von Maßnahmen schlagen Sie vor, um ArbeitnehmerInnen, Angestellten, VertreterInnen oder AuftragnehmerInnen – die nicht mehr in der Lage sein werden, die von Ihnen abgeschafften Tätigkeiten fortzusetzen – den Übergang zu anderen Aktivitäten zu erleichtern?

Frage 4:

Welches sind die derzeit ausgesetzten Aktivitäten, von denen Sie hoffen, dass sie sich entwickeln, dass sie fortgesetzt werden oder sogar von Grund auf neu erfunden werden könnten?

Frage 5:

Beschreiben Sie, warum Ihnen diese Aktivität positiv erscheint. Beschreiben Sie wie diese Aktivität die anderen – von Ihnen geschätzten – Aktivitäten erleichtert, harmonischer oder kohärenter macht und wie sie dazu beiträgt, diejenigen Aktivitäten zu bekämpfen, die Sie für ungünstig halten. (Verfassen Sie für jede der in Frage 4 aufgeführten Antworten einen eigenen Absatz).

Frage 6:

Welche Art von Maßnahmen empfehlen Sie, um ArbeitnehmerInnen, Angestellten, VertreterInnen oder UnternehmerInnen zu helfen, damit diese die notwendigen Kapazitäten / Mittel / Einkommen / Instrumente zur Verfügung haben, um diese Aktivität fortzusetzen, weiterzuentwickeln oder neu zu erschaffen?“

Die vorgefundene, eher dürftige Resonanz

Bruno Latours Aktivität blieb natürlich nicht ganz ohne Resonanz. Im deutschsprachigen Raum haben die Süddeutsche Zeitung aus München am 6.4.2020 und Republik, ein digitales Magazin für Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur aus Zürich am 11.4.2020 das Thema aufgegriffen. Auf der Ausstellung „Down to Earth“ im Berliner Gropius-Bau ist Latour zwar vertreten, aber laut faz-net vom 23.8.2020 nur in einer Art Nischendasein. „Man weiß es nicht.“ Dazu hat womöglich auch seine provozierende Art und Weise beigetragen, wenn er zum Beispiel formuliert:

„Tatsächlich hat sich gezeigt, dass es möglich ist, innerhalb weniger Wochen ein Wirtschaftssystem (überall auf der Welt und zur gleichen Zeit) auszusetzen, von dem uns bisher gesagt wurde, es sei unmöglich, es zu verlangsamen oder gar um zu gestalten. Allen Argumenten, die von Ökologen zur Veränderung unserer Lebensweise vorgebracht wurden, wurde stets die unumkehrbare Kraft des “Fortschritts” entgegengesetzt, dass “wegen der Globalisierung” nichts aus den Gleisen geraten dürfe. Doch gerade ihr globalisierter Charakter macht diese Entwicklung so zerbrechlich, die sich nun wahrscheinlich verlangsamen und dann plötzlich zum Stillstand kommen wird.“

Denkanstösse für ein Zwischenfazit zum Lockdown

Der Inhalt des Fragebogens gibt interessante Denkanstöße für jede/jeden Einzelne/n. Die ergänzenden Ausführungen Latours bieten zusätzliche Anknüpfungspunkte, um mit einer gewissen zeitlichen Distanz ein Zwischenfazit zur Entwicklung in den vergangenen sechs Monaten zu ziehen.

Durch Covid-19 wurden erhebliche Perspektivverschiebungen in traditionellen Betrachtungsweisen erzwungen, so beispielsweise in Fragen öffentlicher Finanzen. Wie bereits hier im Blog erwähnt, handelt es sich dabei nicht um ein vorübergehendes Phänomen. Das ganze Ausmaß der durch diesen „grünen Schwan“ verursachten Schäden lässt sich – trotz vielfältiger Anstrengungen – mit normalen Maßstäben kaum fassen. Die durch die Pandemie ausgelösten tektonischen Verschiebungen werden lange nachwirken. Die Einschätzung der sich hieraus ergebenden Neujustierungen in ihren vielfältigen Wirkungen fällt nicht leicht.

Rein subjektive Fragebogen-Antworten des Autors – exemplarisch

Auf die von Latour gestellten Fragen mag jede/r eigene Antworten finden. Zu Frage 1 fällt mir als Bewohner des Siebengebirges mit dem nahegelegenen Flughafen Köln/Bonn – dem einzigen in der Bundesrepublik ohne Nachtflugbeschränkungen – schnell eine Antwort ein. Nach jahrzehntelangen Bemühungen vieler in ihrer Nachtruhe und Gesundheit massiv gestörter Bürgerinnen und Bürger, um gewisse zeitliche Einschränkungen des Flugbetriebs, wäre dies eine vorrangige Maßnahme.

Die mit Frage 2 erbetene Begründung ergibt sich in diesem Fall aufgrund der amtlich bestätigten gesundheitlichen Schädigungen durch Störung der Nachtruhe vieler Menschen. Die Beschränkung der nächtlichen Flugbewegungen auf ein gesundheitlich erträgliches Maß kann, durch eine entsprechende Bepreisung der dann noch verfügbaren Slots, effizient gesteuert werden.

Mit Frage 3 wird zurecht das Thema möglicher Entschädigungen für die „Verlierer“ einer solchen Maßnahme angesprochen. In diesem Beispiel wären Hinweise auf Bemühungen um Qualifikationsmaßnahmen der betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie eventuelle Beschäftigungen in anderen Bereichen des Logistiksektors Teil der Antwort.

Die Frage 4 bringt mich zu einer Antwort, welche mit einer technologischen Entwicklung zu tun hat. Ein sehr wirkungsvolles und schnell kommerziell einsetzbares Recyclingverfahren für alle Arten von organischen Abfällen, bis hin zur effizienteren Verwertung von Altreifen ist die sogenannte „Mikrowellengestützte De-Polymerisation“ der BIONIC GmbH.

Als Antwort auf Frage 5 verweise ich auf meinen Beitrag anläßlich der Berliner Rohstoffkonferenz 2018 „Kommerzielle Nutzung von Mikrowellen zur Pyrolyse und De-Polymerisation von organischen Materialien“. Hier zu finden als Download.

Die in Frage 6 angesprochenen Punkte beantworten sich folgendermaßen: Zunächst sind willige und kundige Investoren erforderlich. Das Knowhow und die Produktionskapazitäten zur Errichtung und Anwendung dieser Technik im kommerziellen Maßstab wären in Deutschland reichlich vorhanden.

Allgemein mögliche Aussagen zum Wachstumsstop

Auf dem Hintergrund der vielfältigen und recht schnell ergriffenen Maßnahmen und ihren zwischenzeitlichen Wirkungen wird allmählich erkennbar, welche Lebensbereiche für die Gesellschaft und ihre zukünftige Gestaltung von größerer Bedeutung sind und welche sich einer geringeren Wertschätzung erfreuen. Dabei zeigen sich doch sehr unterschiedliche, wenn nicht divergierende Einschätzungen. Diese verschaffen sich mitunter auf den Straßen und Plätzen in heftigen Demonstrationen Luft. Ihre Angemessenheit bedarf dabei häufig der gerichtlichen Überprüfung.

Gesundheitswesen vor der Klammer und Bildung im Lockdown

Der Vorrang und die Stärkung des Gesundheitswesens war sicher unstrittig. Bei den Abwägungen zur gesellschaftlichen Bedeutung von Kultur, Bildung und Erziehung traten teils gegensätzliche Bewertungen zu Tage.

Exkurs: Corona als eine Schule für neues Denken. DerStandard weißt am 22.8.2020 auf einen neuen Sammelband* mit Texten zu und in der Pandemie hin, der unter der Ägide des PEN-Clubs Österreich erschienen ist. „Der Notfall Covid-19 führt überall zu Absperrungen menschlicher Individuen, die je nach der sozialen Situation der Betroffenen als belastend bis qualvoll (in Indien und Afrika) erlebt werden, aber auch schöpferische Kräfte hervorrufen. Der Ansporn zur Aktivität wirkt auf den Einzelnen/die Einzelne mobilisierend, hat jedoch zugleich überall Auswirkungen auf Zustand und Verhalten von Gemeinschaften.“ Statt vieler Worte: der Pen-Club greift hier unter circa 60 Beiträgen zwei Beispiele heraus. Der Schwerpunkt im Sammelband liegt auf geistig-seelischen Konfrontationen mit einem viralen Elementarereignis der Menschheitsgeschichte.

Wirtschaft im Lockdown

Über den Stellenwert und die Wichtigkeit wirtschaftlicher Aspekte sind die Auffassungen in vieler Hinsicht übereinstimmend. Jedoch in Einzelaspekten – abhängig von den jeweiligen Interessenlagen – kontrovers. Soweit kurzfristige Anpassungen durch technische Lösungen oder Umgehungslösungen möglich sind, halten sich finanziell bewertbare Schädigungen in Grenzen. Hier und da führen erzwungene Änderungen sogar zu Effizienzverbesserungen!

Die finanziellen Stützungsmaßnahmen des Staates zur Sicherstellung und Weiterführung industrieller Wertschöpfungsketten können erst nach und nach ihre Effektivität beweisen. Großindustrielle Einheiten erweisen sich als durchaus widerstandsfähig. Mittelständisch geprägte Strukturen müssen ihre volle Flexibilität und Innovationsfähigkeit gegen Nachfrageeinbrüche aufbieten. Auch der Bankensektor steht vor einer gewaltigen Belastungsprobe.

Dienstleistungsbranche in der Krise

Der zeitweise Lockdown der Gastronomie-, Hotel- und Tourismusbranche hat – und wird weiterhin – tiefe Spuren bei Arbeitsplätzen, Einkommens- und Vermögenspositionen der davon Betroffenen hinterlassen (hier die begründete Vermutung zur Zunahme von Privatinsolvenzen). Die temporäre Störung von Geschäftsmodellen, bis hin zum nahezu kompletten „Grounding“ bei Luft- oder Kreuzfahrt/en, geht an die Existenz.

Bemerkenswert ist die Tatsache, dass es im Lockdown bei verschiedenen Dienstleistungsgeschäften auch zu positiven, mitunter geradezu sprunghaften Entwicklungen gekommen ist. Gerade im digitalen Sektor. Ebenfalls positiv zu bewerten sind innovative Lösungen, welche durch die Folgen von Covid-19 entstanden sind. Hingegen haben sich die mit der temporären Mehrwertsteuersenkung verbundenen Hoffnungen auf einen „Käuferrun in die Geschäfte“ bisher nicht erfüllt.

Experten raten zu mehr Geduld. So der Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Prof. Lars Feld von der Universität Freiburg – in faz-net vom 5.9.2020 (hinter Schranke). „Ob die Mehrwertsteuersenkung wirkt, lässt sich erst im nächsten Jahr abschätzen. Erfahrungsgemäß nimmt der Konsum erst kurz vor dem Auslaufen einer solchen Regelung deutlich zu.“ Sein Zwischenfazit: „Das erste Hilfsprogramm im März war gut gemacht. Das aktuelle Konjunkturpaket ist okay, aber nicht ganz so überzeugend.“

Schwedischer Sonderweg ohne Lockdown

Schwedens Sonderweg kann man mit drei Worten als „Lockerheit statt Lockdown“ beschreiben. In den ersten Monaten der Pandemie gewährte es seiner Bevölkerung mehr Freiheiten als andere Länder und verzichtete auf großflächige Zwangsschließungen von Läden, Restaurants und Grundschulen. „Der Effekt der liberalen Gangart ist bis heute umstritten“, so die NZZ vom 4.9.2020 – und wird es bleiben!

Die Wirtschaft brach dennoch ein, wenn auch weniger als in der Schweiz. Schweden verzeichnete bisher über 5800 Corona-Todesfälle, pro Einwohner fast dreimal so viel wie in der Schweiz. Auch die Gesamtsterblichkeit im skandinavischen Land ist außergewöhnlich stark angestiegen.

Eine neue Untersuchung erklärt dies mit dem Nachholeffekt infolge einer ungewöhnlich tiefen Sterblichkeitsrate in 2019 und einem relativ hohen Bevölkerungsanteil in Heimen. Dort kam es zu rund 70 Prozent der schwedischen Corona-Todesfälle. Sowie dem hohen Anteil der Hauptstadt an der Gesamtbevölkerung, den frühen Sportferien und dem relativ hohen Anteil von Migranten. Nach Einschätzung der Forscher sind höchstens ein Viertel der entsprechenden Todesfälle der staatlichen Lockerheit anzulasten.

Wahlen gleich Stunden der Wahrheit nach dem Lockdown

Man kann das Ganze auch auf Personen herunterbrechen – und nichts anderes geschieht gegenwärtig im Land. Darüber berichtet die NZZ vom 4.9.2020 mit dem „anderen Blick“ – beachtenswert auch die vielen wertigen Kommentare. Gefragt wird, warum die Lage bei uns so entspannt ist – trotz steigender Zahl der Neuinfektionen. Und was das über das Krisenmanagement der Politik aussagt?

„Die Antwort auf die erste Frage liegt nach Ansicht der Fachleute am besseren Schutz der Risikogruppen, etwa durch die Abstandsregeln. Von den Neuinfektionen im Land sind demnach zurzeit vor allem Jüngere betroffen. Bei denen gibt es zwar auch schwere Krankheitsverläufe, aber deutlich seltener. … Die Antwort auf die zweite Frage … rückt zwei Politiker in den Fokus, deren Umgang mit der Pandemie in den zurückliegenden Monaten als Fernduell interpretiert wurde: um den richtigen Umgang mit der Pandemie und um die Kanzlerkandidatur der Unionsparteien.“

Markus Söder – mit engem Zügel reitender Sheriff – gegen Armin Laschet, der hinsichtlich eines weiteren Lockdowns reservierter ist. Ersterer durfte jüngst sehr kritische Kommentare zu seinem Krisenmangement vernehmen. „Wer derart selbstsicher auftritt, dessen Fehler fallen umso mehr ins Gewicht. Eine zweite Panne dieser Grössenordnung dürfte Söder seinen Sheriff-Stern kosten.“ So Marc Felix Serrao, Berliner Büroleiter der NZZ.

Die in 2021 anstehenden Wahlen werden konkrete Aufschlüsse über die Richtung geben, in denen sich künftige Entwicklungen vollziehen. Gewählt werden in fünf Bundesländern die Landtage, in Berlin das Abgeordentenhaus. Die Kommunalparlamente in Hessen und Niedersachsen sowie die Bezirksverordnetenversammlungen in Berlin und zuguterletzt im September ein neuer Bundestag. Der eben wählt wiederum den neuen Bundeskanzler. Man kann/darf in jeder Hinsicht gespannt sein. Überraschungen wie bei allen Wahlen keinesfalls ausgeschlossen.

Und hier geht es um Corona und Patientenverfügung

#PreppoKompakt

Jede Frau/jeder Mann kann sich selbst – gleich mehrere – Antworten auf die sechs Fragen von Bruno Latour geben. Auch zur fundierten Vorbereitung auf die eigene Stimmabgabe bei den anstehenden Wahlen. Ein Gedankenaustausch darüber ist naheliegend. Erst entsprechende Wahlergebnisse machen einen nachhaltigen Kurswechsel wahrscheinlich.

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