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In der Diskussion um die Wirksamkeit wirtschaftlicher Sanktionen gegen das Krieg führende Russland treten unterschiedliche Auffassungen zutage. Dabei spielt in der Beurteilung über deren Wirksamkeit die Einbuße an wirtschaftlicher Kraft des betroffenen Landes eine entscheidende Rolle. Die diesbezügliche Messgröße, das Bruttosozialprodukt (BSP), ist in der Öffentlichkeit nach wie vor das gängige und auch allgemein dominierende Maß zur Feststellung und zur Bewertung der Wirtschaftskraft. Seine jährlich festgestellte Höhe und deren Veränderung dient im Vergleich mit anderen Ländern zur Einschätzung eigener vermeintlicher Größe. Zwei Fragen stellen sich: Ist das BSP das richtige Maß aller Dinge? Und: Was bringen Sanktionen gegen Russland?
Zweifel am richtigen Maß
In Zeiten ungestörten Handels und Wandels und stetig zunehmender Globalisierung mochte das noch angehen. Allerdings waren durchaus Zweifel an Betrachtungen und Schlussfolgerungen von der Art „je höher, desto besser“ angebracht. Die im Jahre 2007 aus- und aufgebrochene Finanzkrise führte dazu, dass 2008 ein Gremium eingesetzt wurde, das Alternativen zu der gängigen BSP-Messmethode untersuchen und Änderungsvorschläge erarbeiten sollte. Die sogenannte Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission. Die Ergebnisse wurden 2009 im „Report by the Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress“ festgehalten (hier herunterzuladen). In der Folgezeit wurden berechtigte Einwände jedoch entweder nicht ernst genommen oder politisch vom Tisch gewischt.
Verstärkte Zweifel nach der Zeitenwende
Nunmehr, nach der durch Putins Krieg in der Ukraine eingetretenen „Zeitenwende“, verstärken sich die Zweifel an der Stimmigkeit und Richtigkeit dieser „Maßzahl aller Dinge“. Am 9. Juni letzten Jahres haben wir uns übrigens bereits im Beitrag „What if?“ gefragt, was geschieht, wenn die deutsche Industrie auf sämtliche bisherigen russischen Energielieferungen verzichten muss?
Was bringen Sanktionen gegen Russland – Pro und Kontra
In der „Zeitschrift für Internationale Politik“ vom 25.10.2022 diskutieren Guntram Wolff, Direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), und Heribert Dieter, Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), das Pro und Kontra von Sanktionen gegenüber Russland.
In seinem Fazit spricht sich Guntram Wolff für die Beibehaltung der ergriffenen Maßnahmen aus: „Die Sanktionen haben Russlands wirtschaftliche und militärische Fähigkeiten erheblich geschwächt. Deutschland sollte sie mit Partnern aufrechterhalten und verschärfen, um die Ukraine weiterhin zu unterstützen.“
Prof. Dieter hingegen verweist auf die neuere Geschichte, wo wenig Unterstützung für die Befürwortung solcher Maßnahmen erkennbar ist. Das Beispiel Indien zeige, dass es wohl nicht gelingt unter den anderen Nationen eine genügend große Anzahl für diese „westliche“ Vorgehensweise zu finden. Außerdem entstünden durch das Einfrieren russischer Gelder und die Behinderung von Transaktionen kurz-, mittel- und längerfristige Schäden im Verhältnis zu anderen Ländern – nicht zuletzt in Form von Vertrauensverlusten.
Sein Fazit. „Deren Nutzen ist begrenzt, aber die von den Sanktionen verursachten Kollateralschäden, einschließlich der Folgen der russischen Gegensanktionen für die europäischen Volkswirtschaften, sind enorm.“
Prof. Sapir klopft ausführlich verschiedene Indikatoren ab
Jacques Sapir, Professor an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris, befasst sich im Journal „American Affairs“ – Winter 2022, Volume VI, No. 4, S. 81-86 – unter der etwas irritierenden Überschrift „Assessing the Russian and Chinese Economies Geostrategically“ ebenfalls mit dem Thema.
Dabei sind sein Ansatz und seine Einschätzungen eher quantitativer Natur. Sie basieren auf der Betrachtung der zugrundeliegenden unterschiedlichen Methoden und Konzepte in Bezug auf die Größe der gemessenen Veränderungen beim BSP. Neben der Wechselkursmethode (WK) gibt es die Methode der Kaufkraftparität (KKP).
Wechselkurs oder Kaufkraftparität
Üblicherweise werden beim Ländervergleich von BSP-Größen die jeweiligen Wechselkurse der Währungen zugrunde gelegt. Wechselkurse sind jedoch auf den Geldmärkten spekulativen Schwankungen – nach oben, wie nach unten – unterworfen. Deshalb wird häufig die Methode der KKP angewandt.
Betrachtet man die USA, Deutschland, China und Russland auf der Grundlage von WK- und KKP-Vergleichen, fällt eines sofort ins Auge. Es ist klar, dass die WK-Methode die Größe der chinesischen und russischen Volkswirtschaften erheblich unterschätzt. Derzufolge ist die russische Wirtschaft nur halb so groß wie die deutsche. China wächst zwar schneller, hat aber im Jahr 2019 nur etwa zwei Drittel der Größe der US-Wirtschaft.
Legt man die KKP-Methode zugrunde, ändert sich das Profil der russischen und der chinesischen Volkswirtschaften drastisch. Die russische Wirtschaft wird fast so groß wie die deutsche. Während die chinesische Wirtschaft schon 2016 mit der US-Wirtschaft gleichzieht und seitdem einen leichten Vorsprung aufweist.
Geht es um China und Russland, bleiben in Literatur und Öffentlichkeit die Diskrepanzen zwischen den beiden Methoden weitgehend unberücksichtigt. Dies mag zu einem unangemessenen Optimismus hinsichtlich der Wirksamkeit von Sanktionen geführt haben.
Struktur der Volkswirtschaften – Anteile industrieller, landwirtschaftlicher und Dienstleistungsproduktion
Die betrachteten Volkswirtschaften unterscheiden sich im Hinblick auf die Wertschöpfungsanteile einzelner wirtschaftlicher Sektoren ganz erheblich.
Nimmt man den industriellen Sektor der Volkswirtschaften in den Blick und ermittelt den Anteil dieses Sektors mit der Methode der Kaufkraftparitäten am BSP, so liegt Chinas Anteil im Vergleich zur Bundesrepublik neunmal höher und immer noch dreimal höher im Vergleich zu den USA. Der russische Anteil ist leicht höher als der deutsche.
Innovationsindikator – gleich Zahl der jährlich angemeldeten Patente
Bei diesem Indikator liegt China noch mit großem Abstand an der Spitze, Russland fällt auf den sechsten Platz zurück. Erstaunlicherweise ist die Zahl der Patente aus China und Russland zusammen fast doppelt so hoch, wie die der Vereinigten Staaten, Japans, Südkoreas, Deutschlands, Frankreichs und des Vereinigten Königreichs zusammengenommen.
Globale Exporte von Kritischen Produkten
Die letzte Methode zur Bewertung des Umfangs der russischen Wirtschaft besteht darin, den Anteil an den weltweiten Exporten von Schlüsselprodukten zu messen. Im Jahr 2019 war Russland weltweit der zweitgrößte Produzent von Platin, Kobalt und Vanadium, der drittgrößte von Gold und Nickel, der viertgrößte von Silber und Phosphaten, der fünftgrößte von Eisenerz und der sechstgrößte Produzent von Uran und Blei. Zudem ist Russland der weltweit größte Gasexporteur – der auch über die größten Reserven der Welt verfügt – und der zweitgrößte Exporteur von Rohöl.
Dies zusammengenommen verleiht Russland, abgesehen von seinen industriellen Kapazitäten, eine zentrale Position im Rohstoffhandel, was sein Bündnis mit China erklärt. Jede Unterbrechung oder starke Einschränkung des Handels mit Russland muss zwangsläufig zu erheblichen Störungen auf den Rohstoffmärkten führen.
Jacques Sapirs Schlußfolgerungen
„Es ist offensichtlich, dass der Versuch, die Bedeutung der Volkswirtschaften Chinas und Russlands nur mit der Methode der Höhe des BSP auf der Grundlage der Wechselkurse zu beurteilen, zu fehlerhaften Rückschlüssen auf die Wirtschaftskraft dieser Länder führt und ein Bild erzeugt, das zu falschen Entscheidungen verleitet.
Die industriellen Sektoren, die wir betrachtet und verglichen haben, erlangen in der jetzigen Situation wesentlich höhere Bedeutung. Obwohl noch nicht der Zustand einer Kriegswirtschaft außerhalb der Ukraine eingetreten ist, stehen die Volkswirtschaften weltweit unter dem Einfluss geostrategischer Realitäten.
Die Betrachtung und Anwendung unterschiedlicher ökonomischer Indikatoren – sowie die Suche nach, weitestgehend den Realitäten entsprechenden Parametern – sollten hohe Priorität genießen, wenn wir die Gewichte wirtschaftlicher Macht zutreffend einschätzen und die dazu entsprechenden Entscheidungen treffen wollen.“
Und hier geht es weiter zu unserer neuesten Spitzfindigkeit.
#PreppoKompakt
Die Darstellung wirtschaftlicher Vorgänge, deren Bewertung und Schlussfolgerungen daraus, entstehen aus sehr unterschiedlichen Perspektiven. Sie werden der Öffentlichkeit je nach Interessenlage präsentiert. Bei der Beurteilung solcher Informationen ist die dabei angewandte Methode von grundlegender Bedeutung. Das Beispiel mit der Frage „Wirtschaftssanktionen, ja oder nein“ hat es verdeutlicht. Die Methode sollte in jedem Fall genau angegeben oder eben hinterfragt werden.