Dissertation, umgangsprachlich auch Doktorarbeit genannt, ist nicht gleich Dissertation. Natürlich unterscheiden sich die Arbeiten je nach Fach, Inhalt und Autor. Roman Birke hat nun ein in jeder Hinsicht beachtliches Buch mit dem Titel „Geburtenkontrolle als Menschenrecht“* herausgebracht. Es beruht auf seiner 2018 an der Universität Wien angenommenen Dissertation. Er fasst darin die seit den 1940er Jahren laufende Diskussion um die globale Überbevölkerung zusammen, so auch der Untertitel des Buches. Es lohnt auf jeden Fall, darin zu schmökern.
Stellenwert der Dissertation
Dissertationen sind für ein größeres Publikum in der Regel nur dann interessant, wenn der über sie verliehene Doktortitel fragil geworden ist. So füllten unter etlichen anderen Karl-Theodor Maria Nikolaus Johann Jacob Philipp Franz Lennart Joseph Sylvester Buhl-Freiherr von und zu Guttenberg sowie aktuell Franziska Giffey die Gazetten und Medien. Während der eine von seinem Ministeramt zurücktrat, sitzt die andere das Ganze aus. Trotz dieser Bürde hat sie den SPD-Co-Vorsitz in Berlin erlangt und ist Spitzenkandidatin für das Amt des Regierenden Bürgermeisters geworden.
Neben Profilierung und vermeintlichem Wettbewerbsvorteil für den Kampf um politische Spitzenämter, dient die Dissertation in der Hochschulausbildung und -laufbahn hauptsächlich dem Nachweis, dass man gelernt hat, wissenschaftlich sauber zu arbeiten. Dies schließt Erkenntnisfortschritte in den einzelnen Wissenschaftsdisziplinen – das Ziel allen Forschens – mit ein.
Roman Birke, Jahrgang 1988, arbeitet als Historiker am Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Schwerpunktmäßig forscht er zur inter- und transnationalen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Sein im Wallstein Verlag in Göttingen 2020 erschienenes Buch zur globalen Überbevölkerung besticht durch ein langes Literaturverzeichnis. Wieviel Arbeit darin steckt, spiegelt auch die umfängliche Danksagung des Autors für finanzielle Unterstützung und Stipendien, Gastaufenthalte in New York und Dublin, diverse Präsentationsmöglichkeiten und nicht zuletzt für erhaltene Auszeichnungen/Preise wider.
Menschenrechte und Geburtenkontrolle
Die Frage, ob der Einsatz von Mitteln zur Geburtenkontrolle Menschenrechte verletzt, oder im Gegenteil ein Menschenrecht darstellt, ist Gegenstand eines langen, mehrere Jahrzehnte dauernden Diskussionsprozesses. Dabei stoßen individuelle und kollektive Menschenrechte hart aufeinander (S. 16-20). Am Ende des Tages hat sich trotz länderspezifischer Unterschiede ein Menschenrecht auf Familienplanung/Verhütung herauskristallisiert. Roman Birke bezieht exemplarisch Länderstudien über die USA, Indien, Jugoslawien und Irland mit ein. Zur Vertiefung des Themas Menschenrechte bietet er den Link Schlüsseltexte zu ihrer Geschichte an.
Globale Bevölkerungszahl und Wachstumsraten
Für das Jahr 2100 prognostizierten die Vereinten Nationen (UN) im letzten Jahr übrigens eine Gesambevölkerung zwischen 10 und 13 Milliarden Menschen. Wobei die Wachstumsraten im globalen Durchschnitt im abgelaufenen Jahrzehnt 1,1 Prozent betrugen, in den 1960er Jahren hatten sie noch bei 2 Prozent gelegen (S. 25). Die demographischen Zahlenreihen und Verlaufskurven der Bevölkerungsabteilung der Vereinten Nationen im Zeitraum 1950 bis 2100 sind hier zu finden. Rund drei, gegenwärtig sieben oder in achtzig Jahren 10 bis 13 Milliarden Menschen, das macht schon einen Unterschied.
Bevölkerungsentwicklung nicht ausblenden
Heute werde selten über die globale Bevölkerungszahl offen gesprochen, woraus laut Birke eine doppelte Gefahr erwächst (S. 26-27): Die Informationsasymetrie werde verstärkt und der verschwörungstheoretische Diskurs weiter verschärft. Er versteht darunter, dass die beteiligten Expertinnen und Experten im Bevölkerungswachstum eine Variable zur Beeinflußung ökologischer und ökonomischer Faktoren sehen – und diese Karte auch spielen. „Kommuniziert wird das jedoch nicht mehr.“ Da die Ziele von Kampagnen zur Verringerung des Bevölkerungswachstums nicht offen benannt werden, könne man ihnen locker alles Mögliche andichten. Dies reiche „… von Vorstellungen einer imperialistischen Verschwörung zur Kontrolle der armen Länder bis zu Theorien eines geplanten Bevölkerungsaustausches.“
Die vier Phasen der Diskussion zum Thema Überbevölkerung
Roman Birke unterscheidet dabei vier Phasen: 1940-60er Jahre „Aufstieg“, ab Mitte der 60er Jahre „Durchbruch und Krise“, seit Mitte der 70er Jahre „inhaltliche und regionale Ausweitung“ und danach eine Phase der „Polarisierung und Professionalisierung“ (S. 277-284). Interessanterweise bescheinigt er der UN in der zweiten und dritten Phase ein widersprüchlicher Akteur gewesen zu sein. „Einerseits erlangte das Menschenrecht auf Familienplanung erst aufgrund der Anerkennung durch die Vereinten Nationen Relevanz. … Andererseits blieben die Vereinten Nationen weitgehend passiv, wenn es darum ging, das deklarierte Menschenrecht genauer zu definieren.“ (S. 286).
Offene Diskussion des Problems der Überbevölkerung – nicht alarmistisch
Zugleich warnt er eindringlich vor einer alarmistischen Diskussion des Problems der Überbevölkerung. Eine Warnung, die – bezogen auf die laufende Diskussion der Klimaerwärmung/des Klimawandels – genauso angebracht wäre, dort aber um Lichtjahre zu spät kommt.
Erhellend das offene Bekenntnis des US-amerikanischen Klimaaktivisten David Roberts, den Roman Birke wie folgt zitiert (S. 26-27): „Zwar gab er zu, dass das bestehende Bevölkerungswachstum ein Problem und dessen Reduktion effektiver als jede andere Maßnahme der Klimapolitik sei. Dennoch wolle er es aufgrund der problematischen Geschichte der Bevölkerungspolitik nicht direkt adressieren.“ (Hier im Original in einer leicht aktualisierten Fassung).
Und in der Tat: Liest man heute, dem 5. Jahrestag des Pariser Klimaabkommens, beispielsweise den Bericht in der NZZ (hinter Schranke) über die von der Staatengemeinschaft ins Auge gefaßten Anstrengungen, dann sucht man vergebens nach Maßnahmen zur Steuerung der Bevölkerungsentwicklung. Die Klimaschutzversprechungen kaprizieren sich vorrangig auf den Automobilbau, die Stahlproduktion und den Flugverkehr. Auch auf der Seite der Helmholtz-Klima-Initiative zum Jahrestag – hier – ein ähnliches Bild. Und man glaubt halt, ohne alarmistische Äußerungen nicht auskommen zu können.
Gesunder Menschenverstand gefragt
Gesunder Menschenverstand – wo gibt es den zu kaufen? Eva Rex treibt in ihrem 112 Seiten starken Buch diese Frage verallgemeinert um. „Rettet den gesunden Menschenverstand!“ edition buchhaus loschwitz, Dresden 2020 – auf Tichys Einblick am 7.12.2020 besprochen.
Mit Hilfe von Hannah Arendts 1951 erschienenem Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, insbesondere der dritte Teil, glaubt sie fündig geworden zu sein (S. 12). Von den vielen Fragen, die Eva Rex aufwirft – und auch beantwortet – sei nur eine herausgegriffen. „Warum sind moderne Menschen trotz ausdifferenzierter Individualisierung und Aufgeklärtheit so empfänglich für ideologische Großkonzepte wie … Kampf gegen den Klimawandel und lassen sich entgegen ihren eigenen Interessen für deren Etablierung mobilisieren?“
Die Massengesellschaft bringe eine Orientierungs- und Haltlosigkeit mit sich. Echte Urteilskraft des Individuums gehe verloren, wenn die Erfahrungsfähigkeit als Grundvoraussetzung für die Denkfähigkeit schwindet. Der Ablenkungsschirm moderner Medien tue ein Übriges dazu (S. 27). „Staunend sehen wir uns einem Zusammenschluss von Wissenschaftlern, Politikern, Künstlern und Medienschaffenden gegenüber, die täglich und mit großem Erfolg die Simulation einer kunterbunten Bilderbuchwelt betreiben.“ (S. 29). Soweit Eva Rex – wirklich lesenswert, auch wenn ihre Einschätzung des Maskentragens in der Pandemie (S. 89-98) nicht überzeugt.
Medienschaffende des öffentlich-rechtlichen Rundfunks
Wäre eine Erhöhung der monatlichen Rundfunkgebühren um 86 Cent ab dem neuen Jahr nicht verdient? Angesichts des von Eva Rex Vorgetragenen, eine rein rhetorische Frage. Auch kann weniger mehr sein. Aber wie die NZZ vom 9.12.2020 zu Recht feststellt, mangelt es offensichtlich den Verantwortlichen bei ARD und ZDF an Selbstkritik. Selbst „Roßtäuscherei“ könnte man ihnen vorwerfen. Denn dass sich die paar Cent Gebühren zu 400 Millionen Euro Mehreinnahmen im Jahr aufsummieren, hörte man nicht aus ihrem Munde. Zu einem erhellenden Blick in die Bücher verhilft uns Michael Hanfeld in faz-net vom 8.12.2020. Schon ohne Erhöhung belaufen sich die Gebühreneinnahmen der öffentlich-rechtlichen Sender – hier zählt das Deutschlandradio noch dazu – auf acht Milliarden Euro im Jahr.
Das Bouquet an Kitschfilmen, Billigdokus, Sportübertragungen, Ratesendungen, das auch zum medialen Alltag der Beitragssender gehört, ist nicht jedermanns Sache. Die öffentlich-rechtlichen Anstalten sind wichtig, man sollte sie beibehalten und angemessen finanzieren. „Schade nur, dass bei ARD und ZDF so wenig Gründe zu hören sind und so viel Selbstgerechtigkeit, Empörung, Kritikresistenz.“ Urteilt die NZZ.
Stilllegung eines Kohlekraftwerks durch hanseatische Politik
Um sehr viel Geld geht es auch in Hamburg-Moorburg. Über die Stilllegung des erst fünf Jahre alten Kohlekraftwerks, das drei Milliarden Euro gekostet hat, berichtet Manfred Haferburg detailliert auf der Achse des Guten vom 11.12.2020. Ein Trauerspiel in sechs Akten, das einen wirklich am Verstand (ver)zweifeln läßt. Betriebswirtschaftlich ein Desaster, volkswirtschaftlich erst recht, von der Versorgungssicherheit – einem wichtigen energiepolitischen Ziel, siehe umfänglich hier – nicht zu reden.
Wenn eine gesicherte Lebensperspektive mit angemessener materieller Sicherheit ein Grund für Frauen sein kann, weniger Kinder zu gebären, dann sollten wir unsere wirtschaftliche Stärke nicht weiter erodieren. Wir beschränken damit vor allem auch unsere Möglichkeit, anderen Staaten/Ländern (Entwicklungs)Hilfe zukommen zu lassen – und damit den beschriebenen, bevölkerungspolitisch sinnvollen Effekt herbeizuführen. Die globale Bevölkerungszahl in ihrer Dynamik betrifft uns alle.
Apropos
Während Karl-Theodor zu Guttenberg einen Doktortitel mit einer an der Universität Southampton/England eingereichten Arbeit zum Thema „Agenten, Rechnungen und Korrespondenten im Wandel der Zeit“ wiedererlangt hat, möchte man Franziska Giffey eine intensive Lektüre des Buches von Roman Birke nahelegen. Dies hätte den Vorteil, dass sie sieht, wie man es richtig macht – und „horizonterweiternd“ ist es auch. Vielleicht geben ja die Wählerinnen und Wähler mit den Stimmzetteln bei der Wahl am 26. September 2021 – zugleich mit der Bundestagswahl – ihr im Herbst ausreichend Zeit und Gelegenheit dazu.
Widmung und Dank
Diesen Beitrag widme ich Rissa, die mit dem Hinweis auf Roman Birke den Anstoss dazu gab. Auch das Beitragsbild „Hier fehlt Grün“ kommt von der Künstlerin, wofür ich sehr dankbar bin. Für den Betrachter ist es nicht nur eine Allegorie auf so manche Vorgärten und Stadtviertel im Ballungsraum. Dazu passend der Beitrag auf faz-net vom 10.12.2020 (hinter Schranke), mit dem Titel „Mehr Grün für alle!“ Es ist auch die Projektion auf eine überbevölkerte Erde, bei der Flora und Fauna noch stärker unter Druck stünden.
Und hier geht es weiter
#PreppoKompakt
Eine Dissertation taugt nicht immer als Garant von Zierrat für vermeintliche Spitzenkräfte in der Politik. Im vorliegenden Fall aber gibt sie Hinweise für den vernünftigen Umgang mit einem Menschheitsproblem ersten Ranges, der globalen Bevölkerungszahl.
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