Ende letzten Jahres bin ich auf ein neu herausgekommenes Buch gestoßen, das es wirklich in sich hat. Hört man die Zahl Sieben und das Wort Märchen, denken wohl noch viele Menschen an Grimms Märchen, speziell an die sieben Berge, sieben Zwerge und natürlich Schneewittchen. Unser Buch jedoch handelt von Märchen der Energiewende, wobei der Autor das Ganze mit einem Fragezeichen versehen hat.
Als gestandener Universitätsprofessor untertitelt er „Eine Vorlesungsreihe für Unzufriedene“. Man kann locker hinzuzufügen: nicht nur. Eigentlich könnte es eine Pflichtlektüre und -veranstaltung für politische Entscheider und die, die es werden wollen sein. Denn nicht nur naturwissenschaftlich-technische Zusammenhänge werden für Nicht-Fachleute sehr gut erläutert, auch wie das Zusammenspiel der Kräfte in demokratischen Gesellschaften funktionieren kann. Darüber hinaus schlägt es Brücken zum gegenseitigen Verständnis, nicht zuletzt wird so manches im Rahmen der Energiewende aufgetischte Märchen entzaubert. Auch Humor mit einem leichten Augenzwinkern blitzt ab und zu auf. Was will man mehr von einem Buch!
Um wen und was es sich handelt
Der Autor André D. Thess wurde 1964 in Leningrad geboren und hat früh eigene Erfahrungen mit der späten DDR-Diktatur gesammelt. Heute ist er Professor für Energiespeicherung an der Universität Stuttgart und Direktor des DLR-Instituts für Technische Thermodynamik am gleichen Ort (hier einschließlich Lebenslauf beschrieben, bebildert und mit Hinweisen auf weitere Beiträge versehen).
Das Buch „Sieben Energiewendemärchen?“* mit etwa 240 Seiten ist Ende letzten Jahres im Springer Verlag, Berlin, erschienen (hier der Link zum Verlag). Es enthält reichlich Vorlesungsstoff einschließlich Übungen, genannt Vorlesungsaufgaben – gefühlt für ein ganzes Semester. Gedruckt übrigens in Polen.
Es ist klar gegliedert, klassisch mit Prolog und Epilog versehen. Und auf keinen Fall mit einem Schlag auszulesen. Für die Durcharbeit sollte man sich reichlich Zeit nehmen/geben, um auch eigene Überlegungen sowie Berechnungen, stets mit Anleitung, anstellen zu können. Laut Verlag ist es ein „Leitfaden für eine sachgerechte, kontroverse und zugleich kurzweilige Energie- und Klimadebatte mit Familie, Freunden, Kollegen und Politikern.“
In meiner Fundstelle auf der Achse des Guten vom 29.12.2020 (hier am Ende des Beitrags) rekurriert Annette Heinisch darauf, dass das Buch als Vorlage für rationale Debatten über Sachthemen jeder Art dienen könne. So „… man sie nicht wie Glaubensfragen behandelt. Insoweit ist das Buch weit mehr als ein Sachbuch über ein Fachthema, es ist eine Anleitung zur Rationalität.“ In Bezug auf die Energiewende mangele es gerade an einer sachlichen, rationalen Diskussion. Wie wahr! Märchen sind im Kontext der Energiewende noch stark präsent.
Fünf Schritte der sozio-technischen Analyse
Auf S. XVI beschreibt André Thess die fünf Schritte seiner Analysemethode. Erstens geht es darum, zwei Handlungsalternativen festzulegen, die zu vergleichbaren Ergebnissen führen. Zweitens sind für die Entscheidung zwischen diesen Alternativen vier, fünf oder auch mehr Kriterien zu definieren. Drittens ist zu bestimmen, welche der beiden Handlungsalternativen den einzelnen Kriterien in höherem Maße (mit 1) oder weniger genügt (mit 0 zu markieren). Und viertens ist jedem Kriterium die persönliche Priorität zuzuordnen, einfach indem man sie mit aufsteigender Prioriät durchnummeriert. Im fünften Schritt kann durch die Verknüpfung der Punkte für jede Handlungsalternative eine Gesamtpunktzahl errechnet werden.
„Die Handlungsalternative mit der höheren Punktzahl liefert – auf der Basis der für die Bewertung ausgewählten wissenschaftlichen Erkenntnisse für die persönlichen Werturteile der analysierenden Person – die Entscheidung mit der größtmöglichen Passfähigkeit.“ So Prof. Thess.
Was sich vielleicht etwas kompliziert anhört, entpuppt sich in der praktischen Anwendung – im Buch sind vier Fallbeispiele wiedergegeben – als leicht handhabbar und sehr instruktiv. Letzteres auch, weil es zeigt, dass Werturteile, aber selbst dümmliche Bemerkungen wie „das Netz ist der Speicher“ (festgehalten auf S. 103), Ausdruck der Meinungsvielfalt in einer gelebten Demokratie sind.
Instruktiv, ja wertvoll auch der Blick in die technologische Zukunft eines Nanomobils, des elektrischen Fliegens oder der Energieopulenz. Jedoch mit aller Vorsicht formuliert, weil niemand verläßlich Zukunft vorhersagen kann. Auch nicht mit sozio-technischer Analyse.
Behandelte Gegenstände/Vorgänge
„Tatsächlich ist das Buch voller interessanter Daten und Fakten, aber auch und vor allem voller Analysen, vom „bösen Verbrennungsmotor“ über das „gute Elektroauto“ bis hin zum „stubenreinen Flugzeug“, bei dem die Effektivität der sogenannten CO2-Kompensationsmaßnahmen auf eine Weise untersucht wird, die einem investigativem Journalisten zur Ehre gereichen würde. Ein bisher nicht so häufig behandeltes Thema ist die Rolle von Denkfabriken, denen ein ganzes Kapitel gewidmet ist.“ So Annette Heinisch.
Verbrennungsmotor verbieten, oder?
Für die Analyse des Motors – wie auch die nachfolgenden drei Gegenstände – hält Prof. Thess jeweils eine Ausgangsbehauptung und ein Fazit auf der Grundlage der ausgewerteten Bewertungstabellen parat. Ungeduldige Leserinnen und Leser können sich mit der schnellen Lektüre dieser Teile einen groben Überblick verschaffen.
Die saubere Abwägung, ob der Verbrennungsmotor oder „nur“ die fossilen Treibstoffe verboten werden sollten, erbringt ein klares Bild: Letzteres ist technologieoffen, das heißt, die Bürgerinnen und Bürger können sich zwischen Benzin- und Elektroautos entscheiden. Jeder könnte „… für sich selbst den Weg in eine zwar verteuerte, aber seinen persönlichen Wünschen entsprechende Mobilität wählen. Die CO2-Vermeidungskosten wären … geringer, weil die Technologievielfalt den Menschen mehr Freiheit und dem Gesamtsystem mehr Spielräume lässt.“ (S. 19f). Thess zitiert an dieser Stelle einen japanischen Kollegen, der gesagt habe, „… im Energiesystem der Zukunft sei Technologiediversität genauso wichtig wie Biodiversität im Ökosystem.“
Thess denkt auch laut darüber nach, ob an Stelle nationaler Einzelmaßnahmen eine weltweit einheitliche CO2-Steuer, zudem aufkommensneutral ausgestaltet, stehen könnte (hier kürzlich im Blog thematisiert). Auch wenn er dieser in absehbarer Zeit keine Realisierungschancen einräumt, das dahinter stehende marktwirtschaftliche Leitbild für einen effizienten Klimaschutz imponiert ihm (S. 28). Er umschreibt es gleich an mehreren Stellen mit einer unsichtbaren Hand, die im Spiele sei (so auf S. 198).
Elektroauto und Flugzeug
Für die staatliche Einflußnahme auf die Fortbewegung auf dem Boden kommen eine Kaufprämie für Elektroautos – wie schon kräftig praktiziert – oder die Abschaffung der Pendlerpauschale in Frage. Letzteres hätte niedrigere CO2-Vermeidungskosten und ein größeres Potenzial zur Verringerung der CO2-Emissionen. Auch hier wäre eine aufkommensneutrale Ausgestaltung denkbar (S. 82).
Im Zusammenhang mit der Fortbewegung durch die Luft schaut sich Thess die Klimaschutzprojekte der deutschsprachigen sogenannten Kompensationanbieter „myclimate“ und „atmosfair“ näher an (S. 180 – 186). Demnach sind die Ergebnisse ernüchternd, auch die sonst so integere Stiftung Warentest spielt dabei eine unrühmliche Rolle. Er weist zudem darauf hin, dass diese Unternehmen Kompensationen durch Kernkraft ohne wissenschaftliche Begründung ablehnen, „… obwohl diese vom Weltklimarat IPCC als CO2-Vermeidungstechnologie anerkannt ist.“ (S. 176).
Haus und Hof
Wie schon bei der Diskussion des Verbrennungsmotors favorisiert Thess auch hier die vermehrte Besteuerung fossiler Brennstoffe und gibt ihr den Vorzug vor einer Verschärfung der Bestimmungen zur Gebäudedämmung. „Sie ist technologieneutral und lässt dem Hauseigentümer die Entscheidungsfreiheit zwischen der Beibehaltung der Verbrauchsgewohnheiten zu höheren Kosten, einem verringerten Heizenergieverbrauch zu konstant bleibenden oder niedrigeren Kosten, einem Ausweichen auf CO2-neutrale Brennstoffe und einer Investition in Gebäudedämmung.“ (S. 139f).
(Vor)Denker, Klimaforscher und deutsche Energiewende
Alle drei bekommen in den Kapiteln 2, 4 und 6 in moderater Form ihr Fett weg. Die Zuordnung klug, einfältig und billig für die dort gängige Art und Weise, Märchen zu erzählen, soll an dieser Stelle genügen.
Was sonst noch als Märchen der Energiewende demaskiert wird
Die in der Vergangenheit selbst von Bundeskanzlerin Angela Merkel oft zitierte Alternativlosigkeit trägt märchenhafte Züge. Bei einer gründlichen Analyse der Zusammenhänge lassen sich in aller Regel alternative Wege herleiten. Wer behauptet, etwas sei absolut alternativlos, führt – altmodisch ausgedrückt – was im Schilde oder ist einfach nur dumm. Hierunter fällt auch der von Prof. Thess an einer Urlauberin (auf S. 170) feinsinnig beobachtete „… Gestus ökologisch-moralischer Überlegenheit, den wir Deutschen so vollendet beherrschen.“
In seine Danksagung – unter anderen an die Familie, seine Kollegin und Kollegen, die Lektorin (auf S. 215 und 216) – bezieht er eine etwa 12jährige Schülerin ein, die ihm mit ihrer Frage für die Arbeit an dem Buch viel Optimismus und Mut gegeben habe. Er scheut sich aber auch nicht, ganz dezent (so auf S. 93 und 138) klimasensible Jugendliche auf die Erfüllung der freitäglichen Schulpflicht und eine unangebrachte „Heizscham“ hinzuweisen.
Fehlerteufelchen hat zugeschlagen
Ein Druckfehler ist selbst bei einem renommierten Verlag in der ersten Auflage fast normal. Er hat sich auf S. 65 Mitte eingeschlichen – muss heißen „rund 20 kg“. Ein Rechenfehler findet sich auf S. 70 unten bei der Anwendung der famosen Kaffeebechervermeidungskostenformel. Die genauen Zahlenwerte müssen wohl lauten „643 und 3.499“. Jedoch enthält das Buch – soweit ich es beurteilen kann – keine Denkfehler!
Und hier geht es weiter
#PreppoKompakt
Die Lektüre des Buches über die Märchen der Energiewende entlarvt zu weit Springer, wie auch zu kurz Denker. Sie ist anstrengend, aber auf jeden Fall lohnenswert. Ein veritabler Leitfaden auch für das Verständnis des Klimawandels. Es ist zu wünschen, dass sich viele dieser Übung unterziehen und dies unserer Gesellschaft in Form einer offeneren Diskussionskultur – ohne Ausgrenzungen, Schuldzuweisungen und Schwarzmalerei was Klima und Energie anbelangt – zugute kommt. Wer weiterhin Märchen erzählen möchte, möge sich an die Gebrüder Grimm halten.
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