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Jetzt könnten eigentlich auch politisch Blinde jene üble Lage erkennen, in welche sich die Christdemokraten haben treiben lassen. Sie zeigt sich in Berlin nämlich wie unter einer Lupe. Zugleich zeigt sich aber auch, wie einladend es ist, sich alles als gar nicht wirklich so schlimm einzureden. Da wurde die Union zur mit Abstand stärksten Partei der Bundeshauptstadt. Auch hat sie seit der letzten Wahl – anders als die AfD – nicht bloß einen einzigen Prozentpunkt an Stimmen hinzugewonnen, sondern um gut zehn Prozent zugelegt. Doch Sozialdemokraten, Grüne und Linke machen, ganz zu Recht, auf Folgendes aufmerksam: Zur Übernahme der Exekutivmacht braucht es im parlamentarischen Regierungssystem nun einmal die Mehrheit im Parlament – zumindest dann, wenn sich, anders als in Thüringen, keine Minderheitsregierung installieren und handlungsfähig halten lässt. Das ist das Elend der CDU.
Und nun darf sie darauf hoffen, dass nicht nur die Koalitionsverhandlungen mit der SPD gut ausgehen, sondern dass sich Frau Giffey mit dem Ergebnis in der SPD durchsetzt. Das wäre die bequeme Rechtfertigung für weiteres Blindstellen.
Nach der Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus am 12. Februar 2023
Eine parlamentarische Mehrheit hat aber weiterhin die bisherige Berliner Koalition. Wenn es also bei SPD, Grünen und Linken den politischen Willen gibt, ihre Koalition fortzusetzen, oder wenn sich die SPD-Basis dem nun zutage getretenen Wunsch ihrer Führung nach einer Koalition mit der Union verschließt, dann nützt der – von niemandem bestrittene – Wahlsieg der Berliner CDU überhaupt nichts. Allenfalls niedlich ist das Argument, eine Fortführung der bisherigen Koalition widerspräche dem am Wahltag kenntlich gewordenen „Wählerwillen“. Erstens gilt: Mehrheit ist Mehrheit; und die hat weiterhin die bisherige Koalition. Zweitens stört es doch schon jahrelang auch die CDU selbst nicht, dass bei der Eurozonenpolitik, der Migrationspolitik oder der Energiepolitik auch von ihr durchaus eine andere Politik betrieben wird, als eine Mehrheit der Bevölkerung sie wünscht. Wichtig scheint ja nur zu sein, dass „die richtige Politik“ betrieben wird – und das ist jene, die unser kulturell hegemoniales Milieu der Grünen und Linken entwirft.
Die Einsamkeit der CDU
Also buhlte die Berliner Union ums Einheiraten in dieses Milieu. Die Grünen hatten rasch wissen lassen, eine CDU-Koalition mit ihnen gäbe es nur beim willigen Einschwenken auf den eigenen Kurs. Und die SPD-Führung ist mehrheitlich überzeugt, eigentlich bekomme unserem gesellschaftlichen Zusammenhalt viel besser eine Fortführung der sozialdemokratisch geführten Links-Koalition als ein Zusammenwirken mit jener Union, die sich im Wahlkampf so böse nach links abgegrenzt habe. Deshalb steht die CDU jetzt ziemlich einsam da – in Berlin und in Deutschland. Und nicht immer ist eine Giffey in Sicht, die den schwarzen Brautwerber erhören will.
Die FDP nämlich, jahrzehntelange Unionspartnerin, wird entweder aus dem Parlament gewählt (wie soeben in Berlin), regiert lieber schlecht mit SPD und Grünen als gar nicht (wie im Bund), oder ist zu schwach, als dass mit ihr allein eine Unionsregierung eine Parlamentsmehrheit hätte (wie weithin in Deutschland). Zwischen Union und AfD wiederum befindet sich ein sehr tiefer Graben, den einst die CDU auszuheben begonnen hat – und zwar auf Geheiß von SPD, Grünen und Linken, gepeitscht obendrein von grün-links sympathisierenden Medienleuten. Daraufhin benutzte die AfD das ausgeschachtete Füllgut zur Errichtung einer eigenen politischen Fluchtburg. Aus der macht sie nun hämische Ausfälle gegen die sich windende Union.
Zwischen allen Stühlen
Denn diese wird derzeit von allen Seiten her angegriffen, schutzlos geworden gegen links und rechts sowie auf mehrheitsverschaffende Gnadenakte ihrer Konkurrenz angewiesen. Zur AfD hin eine deckende Mehrheit zu suchen, geht rechnerisch nicht und wird von der CDU auch gar nicht gewollt. Zu demütigend wäre ja das christdemokratische Eingeständnis, der Kurs von Abgrenzung und Ausgrenzung nach rechts hätte nicht die AfD geschwächt, sondern die eigene Partei. Sich jetzt durch ein Bündnis mit Grünen oder Sozialdemokraten doch noch ins Rote Rathaus zu flüchten, muss deshalb durch demütiges Kuschen vor den Forderungen des jeweiligen Koalitionspartners erkauft werden. Die haben umso mehr Gewicht, als die Identitätswünsche von deren Mitgliedern in den innerparteilichen Diskussionen um die empfundene Mesalliance mit der CDU mehr Resonanz zu finden pflegen als die Karrierewünsche von Verhandlungsführern.
Entsprechendes Kuschen von der Union zu verlangen ist auch fair, denn mit nicht viel mehr als 28 Prozent der Stimmen gibt es nun einmal keinen eigenen Gestaltungsanspruch der Union, welcher machtpolitisch gedeckt wäre. Und nachdem die Bundes-CDU ohnehin seit Jahren dem Glaubenssatz folgt, gerade im Bündnis mit den Grünen finde sie ihren Stammplatz in der politischen Mitte, geschieht es ihr ohnehin recht, wenn sie jetzt grüne Kreide zu fressen hat. Freilich gilt dann erst recht, dass der Wähler anschließend lieber das Original als die Kopie wählt – vor allem dann, wenn er sich noch nicht im Pensionsalter befindet. Dass die Union inzwischen ans Fressen alternativer rötlicher Kreide gewöhnt ist, macht ihre Lage nicht wirklich besser.
Als die CDU noch sie selbst war
Hingegen stets lieber für das CDU-Original als für eine Kopie zu stimmen, war das Motto von strategisch wichtigen Teilen der Wählerschaft, als die CDU noch sie selbst sein wollte, nämlich eine bunte Truppe aus Liberalen, Sozialen und Konservativen. Damals konnten neue Parteien, die sich rechts der Union bildeten, im Wesentlichen nur Radikale anziehen. So blieb es solange, wie die CDU die eigenen Positionen als Partei auch für vernünftige Leute rechts der politischen Mitte noch verteidigte. Genau deshalb dominierte sie damals von der Mitte bis zum rechten Narrensaum und trieb, durch so ermöglichte Wahlsiege, die Linke zur Verzweiflung.
Raue Gegenwart und mögliche Abhilfe
Jetzt aber wird die „Union der reinen Mitte“ ihrerseits als ein Narr behandelt, der sich von Grünen oder Sozialdemokraten willig am Nasenring in Regierungsämter geleiten lässt – oder eben in der Opposition zu bleiben hat. Bravo für das strategische Können von Grünlinks, und buh für die politischen Torheiten der Union!
Zur Probe aufs Exempel werden die derzeitigen Berliner Koalitionsverhandlungen zwischen CDU und SPD. Auch wird deren Erfolg noch nicht die Koalition zustande bringen. Sie gilt es erst einmal, gegen erbitterten innerparteilichen Widerstand, bei den Sozialdemokraten durchzusetzen. Natürlich sollte die Union es Giffey erleichtern, diesen Kampf zu gewinnen.
Doch sie sollte sich dabei nicht die Butter vom Brot nehmen lassen. Das würde nur die Zahl jener Wähler vermehren, die der Union innerlich kündigen, oder gar die AfD als einzige Alternative zu mehr und mehr abgelehnten „Altparteien“ unterstützen. Doch vermutlich trüben Freudentränen über die neue sozialdemokratische Braut hierfür den Blick. Es reicht eben für dauerhaften Erfolg nicht das Taktieren; man braucht schon auch eine Strategie!
Und hier geht es gleich spitzfindig weiter.
#PreppoKompakt
Dieser Beitrag zum Elend der CDU stammt von einem profunden Kenner der politischen Situation in Deutschland, dem emeritierten Politikwissenschaftler Prof. Dr. Werner J. Patzelt (schon in der Spitzfindigkeit #83 aus Dresden aufgetreten). Mit seiner Erlaubnis haben wir den am 13. Februar auf seiner Seite – wjpatzelt.de – veröffentlichten Beitrag leicht verändert, doch im Wesentlichen inhaltsgleich abgedruckt. Neben der in etwa ähnlich langen CDU-Mitgliedschaft eint uns (WP + JG) eine auf die gemeinsame Assistentenzeit an der damals jungen Universität Passau in den 1980er Jahren zurückgehende Freundschaft.