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Spitz oder Spitze sind in aller Regel pointierte Aussagen zum Zeitgeschehen. Dies kann, muss aber nicht die Politik betreffen. Es kann auf die Gegenwart oder auch auf die Vergangenheit gemünzt sein. Spitz ist eine Aussage dann, wenn sie sticht, der betreffenden Person oder Personengruppe wehtut, spitze, wenn sie ausgezeichnet formuliert ist und im Idealfall zudem die Wahrheit abbildet. Fi/ündig, wenn der beschriebene Umstand nicht ganz offensichtlich, also erst zu ergründen ist. Und -keit lässt auf unterschiedliche menschliche Eigenheiten/-schaften schließen, wie beispielsweise Eitelkeit, Heiterkeit, Überheblichkeit oder, oder. Alles zusammengenommen eine echte Spitzfindigkeit. In unserer Kolumne ‚Spitz-findig-keit‘ zitieren wir in lockerer Folge jeweils zwei oder drei Aussagen und verschonen dabei auch nicht klassische Denkerinnen und Denker.
Um Denkanstöße zu geben, die Freude am Formulieren zu wecken – nichtzuletzt auch um dem Humor in unserer doch etwas trostloseren Zeit wieder mehr Geltung zu verschaffen. Erhöht das Wohlbefinden. Packen wir es an! Ich sage nicht, wir schaffen das. Aber wir probieren es auf jeden Fall!
Vorbemerkung
Es gibt nach Immanuel Kant auch eine falsche Spitzfindigkeit, die wir uns hier allerdings nicht zu eigen machen wollen. Wer dem dennoch nachgehen möchte – Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren – kann dies hier gerne tun.
Heute hüpfen wir dafür mit großen Sprüngen mittels Büchern und Filmen durch die Geschichte des 17. bis 19. Jahrhunderts – und ziehen daraus ein paar einfache Schlüsse für die Gegenwart.
1. Spitz-findig-keit
François VI. de La Rochefoucauld (1613-1680), ein Adeliger und Militär, der als Literat mit seinen aphoristischen Texten (Maximen und Reflexionen, Universal-Bibliothek Nr. 678, Reclam, Stuttgart 1948) als der älteste der französischen Moralisten gilt. Aus 500 seiner im Reclam-Bändchen enthaltenen Gedanken nur fünf ausgewählt:
„Edler Anstand ist für den Körper, was der gesunde Menschenverstand für den Geist ist.“ (67)
„Jedermann klagt über sein schlechtes Gedächtnis und niemand über seinen schlechten Verstand.“ (89)
„Trennung läßt die schwächere Leidenschaft abnehmen und die große wachsen: wie der Wind die Kerzen auslöscht und das Feuer anfacht.“ (276)
„Es gibt böse Menschen, die weniger gefährlich wären, wenn sie nicht auch gute Eigenschaften besäßen.“ (284)
„Wir trauen fast niemandem gesunden Menschenverstand zu außer dem, der unserer Meinung ist.“ (347)
2. Spitz-findig-keit
Die NZZ vom 18.11.2023 berichtet (hinter Schranke) größtenteils wohlwollend über den aktuellen Napoleon-Film von Ridley Scott. Über die Größe, auch Körpergröße von Napoleon (1769-1821; 1,69 m), wie auch des Regisseurs, deren Eroberungen und Schlachten sowie natürlich das dokumentierte Leid. „Scott, ein Meter vierundsiebzig, hat beim Film früh viel Gebiet erobert. Anfangs vor allem extraterrestrisch, mit … «Alien» (1979), «Blade Runner» (1982). Später (mit – JG) … Blick … auf Kolumbus in «1492: Conquest of Paradise» (1992). Zur Jahrtausendwende dann die epische Sandale «Gladiator», Oscar für den besten Film. Sir Ridley Scott, 85-jährig, aus der Hafenstadt South Shields im Nordosten Englands, ist Hollywood-Adel, ein Grossregisseur.“
„Alles muss mit im neuen Kinofilm. Aufstieg, Schlacht, Liebe, Schlacht, Eifersucht, Schlacht. Die Krönung. Noch eine Schlacht, dann die Verbannung, dann die Rückkehr. Dann die finale Schlacht. Dann die finale Verbannung. Und am Ende, da kippt der Mann unter der Sonne St. Helenas tot und ein bisschen schlapp vom Hocker.“
Auch faz-net vom 22.11.2023 berichtet (destogleichen hinter Schranke), aber mit dem totalen Verriss des (bis zu) 200 Millionen US-Dollar teuren Films. So den Schlachtszenen, die als die große Enttäuschung beschrieben werden, „… weil er für die einzigartige Kombination von Charisma, militärischem Genie und menschenverachtender Brutalität, mit der Napoleon die Armeen Kontinentaleuropas hinwegfegte, nicht das geringste Gespür hat.“
„‚Napoleon‘ als Ärgernis zu bezeichnen wäre ein zu großes Kompliment für diese aufgeblasene, zweieinhalbstündige Nichtigkeit von einem Film. Ridley Scott hat in den letzten fünfzig Jahren viele Schlachten auf der Leinwand geschlagen – und die meisten, wenn auch oft nur knapp, gewonnen. Diese ist seine bisher traurigste Niederlage.“
Teile Napoleon Bonapartes bei Auktion
Mehr oder weniger zufällig (wirklich?) wurde heute vor einer Woche im Auktionshaus Osenat in Fontainebleau bei Paris neben einer Haarsträhne, einem Taschentuch und Handschuhen auch ein Originalhut Napoleons – Zweispitz aus Filz, von dem er 120 Stück besessen haben soll – für 1,932 Millionen Euro versteigert. Im Stern vom 20.11.2023 gibt es dazu ein einminütiges Video, wie auch den (ebenfalls nur mit Werbung) zugänglichen Trailer (2 Minuten 24 lang) für Ridley Scotts Film. Vermutlich hilft nur, diesen selbst anzuschauen, um sich ein abschließendes Urteil bilden zu können.
3. Spitz-findig-keit
In der NZZ vom 21.11.2023 bespricht Paul Jandl den Roman „Betrug“* von Zadie Smith (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023, 526 Seiten). 1873 – dies ist überliefert -, also vor 150 Jahren wird einem Hochstapler in London der Prozess gemacht, der behauptete, Erbe der weitläufigen Ländereien der Familie Tichborne zu sein. Ein Jahrhundertprozess im Viktorianischen Zeitalter – zur Queen Victoria siehe unsere #100, ein „… Fall aus der Vergangenheit …, dessen grelles Licht auch die Gegenwart gnadenlos ausleuchtet.“
Der Beginn: „Was haben Linkspopulisten und Rechtspopulisten gemeinsam? Dass ihre Wahrheiten verhandelbar sind. Die Wähler glauben, was sie glauben wollen. Der Rest, mag er auch noch so widersprüchlich sein, wird ausgeblendet.“ Und der Schluss von Jandls Rezension: „Zu vielen Stellen des Romans kann man nur nicken, weil er so furchtbar oft recht hat. Nicht nur im Moralischen, sondern wohl auch beim Interieur der Viktorianischen Zeit. In den Dialogen von ‚Betrug‘ dehnt sich die Zeit, weil man damals beim Tee offenbar noch Zeit hatte für Dialoge.“
Widmung
Meiner Schulkameradin Christa und meinen alten Kollegen/Freunden Ottmar und Roland gewidmet, mit denen ich gestern in Frankfurt am Main in „Die Galerie“ die Vernissage zur Ausstellung „ERNSTERNSTERNST – Drei Generationen einer Künstlerfamilie“ besuchen und im Anschluss daran im Restaurant „Mutter Ernst“ mit gutem Essen und Trinken und vor allem netten, vorwärtsgewandten Gesprächen den Nachmittag zubringen durfte. Nicht zu vergessen der fulminante Rundgang durch die pulsierende Altstadt mit tausenderlei Eindrücken – wie auch heißem Kakao und weißem Glühwein. Dank ebenso an Maria, Andrea und Rudolf, die uns kräftig zur Seite standen.
Und hier geht es weiter zur nächsten Spitzfindigkeit.
#PreppoKompakt
Auf den gesunden Menschenverstand pocht man also schon sehr lange – wohl dem, der ihn hat/sein Eigen nennen kann. Und der Populismus ist kaum aus der Welt zu schaffen. Ebenso wie der Betrug durch Betrüger, über die menschenverachtende Brutalität angesichts der aktuellen kriegerischen Auseinandersetzungen nicht zu reden!
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