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Der Zufall ist eine wirkmächtige Kraft. So viele Dinge im Leben passieren – tragische wie positive – nur weil wir uns in Sekundenbruchteilen oder auch im längeren Zeitablauf, so oder so entscheiden. Selbst wenn unglückliche oder glückliche Umstände zusammenkommen und wir gar nichts dazutun können oder müssen – wie in der Spitzfindigkeit #184 beschrieben. Einen ganzen Fundus solcher Zufälle erschließt das Buch „Schwäbisches Capriccio„* von Anšlavs Eglītis, aus dem Lettischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Berthold Forssman, neu erschienen am 23. August im Guggolz Verlag, Berlin 2024, 320 Seiten, 25 €.
Ein Stück schwäbische Geschichte kehrt heim
Ja, wir verdanken überhaupt erst einem solchen Zufall dieses Buch. Anšlavs Eglītis wurde 1944 von der anrückenden Roten Armee aus seiner Heimat in Riga/Lettland vertrieben. Er kam über Berlin – wo er zusammen mit seiner Ehefrau Halt gemacht hatte, dort aber im Februar 1945 ausgebombt wurde – schließlich nach mehrtägiger Zugfahrt, die in die Schweiz führen sollte, auf der Schwäbischen Alb in einem „Liliputstädtchen“ an.
Anfang …
Dieses Städtchen ist Tailfingen, im Roman, wohl in Anlehnung an den Nachbarort Pfeffingen, Pfifferlingen genannt. Der Protagonist Pēteris Drusts ist ein Apotheker und eingefleischter Junggeselle. Eine Ehefrau, wie im richtigen Leben des Autors die Malerin Viktoria Janelsiņa, kommt darin nicht vor. Dennoch steckt eine ganze Menge autobiographisches darin.
Judith Leister
In der NZZ vom 11.9.2024 meint Judith Leister: „Die Schwaben kommen in diesem Buch nicht gut weg. Die grosse Niederlage Deutschlands spiegelt sich im Kleinen, in der Bedeutungshuberei, der Habgier und Hoffart der Pfifferlingerinnen und Pfifferlinger wider. Da ist der Landsmann, der sich über ein beim Sturm auf sein Grundstück geflogenes Dach freut und es zu Brennholz zerkleinert, bevor er merkt, dass es sich um das Dach seines eigenen Hühnerstalls handelt. Oder der dicke Arzt, der sich bei Drusts für viele zusammengehamsterte Mahlzeiten endlich mit einem Festmahl revanchiert und vor Ärger über die verschwenderische Ausgabe fast platzt.“
Und: „Selbst der Antifaschist, der nach dem Krieg einen einflussreichen Posten bekommt, ist ein Miesling. Hinter seinem Rücken versteckt seine Familie einen Nazi im Haus, und gerade als der Misanthrop Meldung bei der französischen Besatzungsbehörde machen will, trifft ihn der Schlag. Immerhin verhindert der listige Pfifferlinger Bürgermeister noch einen blutigen ‚Endkampf‘, indem er sich auf den ‚Führer‘ selbst beruft: ‚Aus der Anordnung geht nicht eindeutig hervor, ob wir bis zu unserem oder bis zu seinem letzten Atemzug kämpfen müssen.‘ Also ergibt man sich vierzehn Tage früher als das übrige Reich.“
Helmut Böttiger
Schon am 2.9.2024 hat Helmut Böttiger im Deutschlandfunk das Buch besprochen, es lohnt sich das rund 7-minütige Audio anzuhören. Dabei bedient er zwar das eine oder andere gängige Klischee, beispielsweise über die Sauberkeit und den Geiz der Schwaben. Und glaubt Abgründiges über dieses provinzielle, hinterwäldlerische Völkchen herauszulesen, aber erkennt in der lettischen Sichtweise auch gewisse romantische Züge. Denn ganz so schlimm kann es nicht gewesen sein. Schließlich haben es der lettische Schriftsteller und die „Frau Kunstmalerin“, wie sie im Ort fast ehrfürchtig genannt wurde, vier Jahre bei und mit den Tailfingern ausgehalten.
JG
Umgekehrt mag den Beiden, zuhause von der baltendeutschen Adelsklasse entwöhnten/befreiten, auch nicht unbedingt die Geschichte des Widerstands um Claus Schenk Graf von Stauffenberg aus dem Nachbarort Lautlingen, heute zu Albstadt gehörend, imponiert haben. Folgerichtig wird diese im Buch auch mit keinem Wort erwähnt. In zwanzig Kapiteln werden dafür größere und kleinere Episoden mit und ohne den Protagonisten erzählt.
Dabei wimmelt es von Trägerinnen und Trägern der Namen Ammann, Bitzer, Blickle und Konzelmann – so auch im richtigen Leben, was den Tailfingern schließlich die Bezeichnung ABC-Stadt eingebracht hat. Denn es dominiert die Schreibweise Conzelmann, neben der Einordnung der Talgangbahnstrecke von Ebingen nach Onstmettingen als Schmalspurbahn – dem Vehikel mit dem Pēteris Drusts nach Pfifferlingen kam -, ein kleiner, von der dichterischen Freiheit gedeckter Fehler. Und im Grunde genommen „Keinen Kommentar“ wert.
Das Buch liefert fast nebenbei Elemente der Orts-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Nachkriegzeit. Es spiegelt sowohl die Begrenztheit der damaligen Weltbildes, als auch Tugenden wie Fleiß (auf Englisch „industry“), Ordnungsliebe, Ehrlich- und Gemeinsamkeit, die heute teilweise in Vergessenheit, wenn nicht sogar in Verruf geraten sind. Schön, dass auch vielfältiger Humor sowie Dinge aufscheinen, die immer noch existieren, wie beispielsweise die Firma Eterna – Nomen est omen? -, wo wenigstens der Name in einer angesehenen Hemden- und Blusenfertigung im niederbayerischen Passau weiterlebt.
Die 20 Kapitel
So in Der Spuk (S. 34) und Die Bombe (S. 59), die, wie sich mit Hilfe eines polnischen Kriegsgefangenen Stunden später herausstellt, keine war. Oder Leutnant Frost (S. 69), der wieder abdampft/verschwindet, während der Bürgermeister eine Sperre bauen und die Franzosen holen läßt, womit in Pfifferlingen schon am 24. April 1945 der Krieg endet (siehe NZZ). Oder in Die Lederuniformen (S. 81), von denen Pēteris Drusts am Ende des Tages sogar zwei Stück abbekommt.
Hans Dieter Faigle (S. 91) kommt als Invalide aus dem Ersten Weltkrieg zurück, dennoch heiratet ihn seine Verlobte Anna Helena Gonser. Als er nach Ende des Zweiten Weltkriegs Direktor der Versicherungskasse Pfifferlingen wird, die Nummer zwei nach dem Bürgermeister, erhält er einen anonymen Brief. Er geht der Sache nach und muss zur Kenntnis nehmen, dass ihn seine Familie hintergangen hat. Der Tod erspart ihm weiteres Ungemach (siehe NZZ).
In der Fabrikant Emil Maute (S. 114) kehrt der einzige Pfifferlinger Kommunist aus einem Konzentrationslager zurück und wird von den Franzosen zum Bürgermeister ernannt. Er überträgt dem Wirker Emil Maute die Aufsicht über das Unternehmen von Jakob Blickle mit 120 Wirkstühlen. Maute räumt die Fabrik in jeglicher Hinsicht sauber auf und wird nach der Rückkehr des Eigentümers verhaftet. Er, der nicht an den Tod, sondern ans ewige Leben denkt, möchte auf seinem Grabstein „Fabrikant Emil Maute“ stehen haben.
Das Geschenk (S. 141) beschreibt, wie Gottlieb Gonser und seine drei Nachbarn ein nach einem heftigen Sturm im Garten gelandetes Dach zerlegen (siehe NZZ). Und Die Welt (S. 150) sieht Marieluise Margarete Blickle auf Weltreise, das heißt mit dem Kuhkarren von Truchtelfingen über Onstmettingen (?) nach Pfifferlingen und wieder zurück nach Truchtelfingen in einem ganzen Tag. Das Feuer (S. 159) berichtet von der effizienten Feuerwehr im Ort, was den Kommandanten, die Mannschaft und Ausstattung anbelangt. Und wie man bei einem Hausbrand unaufgeregt zu einem zweifelsfrei sauberen Ergebnis kommt.
Beim Das Lächeln (S. 177) löst das verlorene Gebiß der Vermieterin von Pēteris Drusts nach einem opulenten Mahl Probleme aus, während Die Brüder Pfister (S. 191), die voll und ganz auf die Trikot-Währung setzen, dafür im ansonsten wenig ausgelasteten, ins Rathaus integrierten Knast der Polizei landen. Übrigens zugleich erfüllt von Überraschung, Schmerz und Genugtuung. In Der Ring (S. 209) hat der riesige Benno Konzelmann, der in der Metzgerei Frick arbeitet, dennoch Angst vor der zierlichen Witwe Marta Lieselotte Blickle. Pēteris Drusts kann ihm letztendlich helfen. Bei einer anderen, in Das Mehl (S. 218) beschriebenen Hilfsaktion, wo es darum geht zwanzig Kilogramm davon zu Fuß aus Groffelfingen, wohl Grosselfingen, zu holen, erhascht er auch einen sagenhaften Blick auf die Alpen.
Die Schuhe (S. 221) zieren im Schmalspurzug – richtigerweise dem Schellenmatheiss – die Füße des 12-jährigen Heinz Konzelmann, der unterwegs zu seiner Großmutter ist. Sein Problem, es sind Frauenschuhe. In Der Bär (S. 225) trägt derselbe Junge beim Kinderfest mit Maskenzug ein Bärenkostüm, bis er seine Großmutter entdeckt. Er bewältigt auch mutig eine rutschige Kletterstange mit Belohnung und fängt trotzdem von seiner Mutter eine kräftige Ohrfeige ein. In Der Polizeioberwachtmeister (S. 236) gerät der Bürgermeister im Gasthaus Lamm in eine Auseinandersetzung mit zwei jungen Letten. Pēteris Drusts vermittelt so erfolgreich, dass das Ganze mit einem nie dagewesenen Besäufnis endet. In Die Einladung (S. 259) erhält er regelmäßig vom Mediziner Dr. Ott Besuch. Der überrascht Drusts, nach mehreren leeren Versprechungen, mit einem für Pfifferlingen außergewöhnlich reichhaltigem Essen, gleich vier prächtigen Mahlzeiten auf einmal. Nachdem dieser das Haus verlassen hat, fällt der Arzt wie ein Kartoffelsack zu Boden (siehe NZZ).
Auf die Metzgerstochter Melusine Frick (S. 274), mit Fingern „… weiß und zart wie besonders appetitliche, noch nicht geräucherte Würstchen, und mit wunderschönen Nägeln“ (S. 278) hat Pēteris Drusts gleich mehrere Augen geworfen. Sie – das schönste Mädchen von Pfifferlingen – war wohl der Hauptgrund, warum er es nicht übers Herz brachte, die Stadt zu verlassen. Als er es dann doch tat, war Melusine die erste, der er es mit zitternder Stimme mitteilte. „Drusts war, als ob auch Melusines Stimme zitterte“ (S. 291). Carla Frick, wohl verwandt und eine exzellente Sängerin – wir haben sie hier und hier gehört -, könnte sich das nicht erlauben.
Der Abschied (S. 292) fiel Drusts schwer, er kam in Form einer knappen Nachricht. Er möge sich in einem Emigrantenlager zur Gesundheitsprüfung und dann beim Konsulat der Vereinigten Staaten einfinden. Nachdem er sein geringes Gepäck zum Bahnhof hatte bringen lassen, „… machte er sich daran, sich von Pfifferlingen und den Pfifferlingern zu verabschieden“ (S. 295). Er klapperte alle ab und holte sich zum Schluss im Krämerladen für die Reise noch ein Dutzend Wecken und sechs Brezeln, ein schwäbisches Wort das ihm besonders gefiel. Während sie alles langsam einpackte, fragte die ergraute Krämerfrau plötzlich, ob er denn seine Frau Bitzer gefunden habe. Er schaute sie entgeistert an, sie sagte lächelnd. „Ich bin Ihre Frau Bitzer …“ und „… wollte es gleich am ersten Tag zugeben, als Sie mich fragten. Aber Sie erzählten, dass Ihre Frau Bitzer jung und schön wäre. Ich wollte Ihnen diese Illusion nicht rauben. Aber da Sie jetzt wegfahren, kann ich es Ihnen sagen, damit Ihr Herz nicht wegen einer unerledigten Sache schmerzt“ (S. 300f).
Mit Frau Bitzer (S. 5) als Sitznachbar(in) im Zug nach Pfifferlingen hatte alles angefangen. Sie war es gewesen, die ihm das Gasthaus „Zum Lamm“ empfohlen, ihn in stockdunkler Nacht dort hin geleitet und sogar ihre Taschenlampe überlassen hatte. Ihn drückte ein schlechtes Gewissen, weil er ihr nicht beim Gepäcktragen geholfen, da er sie im ebenso dunklen Zugabteil zunächst für eine Person männlichen Geschlechts gehalten hatte.
… und Ende
1949 endet der Aufenthalt auf der Alb. Tatsächlich gelangen Anšlavs Eglītis und Viktoria Janelsiņa ans Wunschziel, die Vereinigten Staaten von Amerika. Sie ziehen dort mehrmals um und landen schließlich im kalifornischen Los Angeles. Wo er – der 1906 Geborene – 1993 stirbt, ohne seine zwei Jahre zuvor unabhängig gewordene alte Heimat, Lettland, wiedergesehen zu haben. Sie – Jahrgang 1910 – lebt noch bis 2001.
Während einer Zwischenstation in Salem im Bundesstaat Oregon bringt Eglītis 1951 in einem von ihm eigens gegründeten Verlag das Buch „Schwäbisches Capriccio“ (auf Lettisch: Švābu Kapričo, Your Town press Inc. Salem, OR USA) heraus. Ein Titel, der auf Deutsch zunächst nach Essbarem klingt – die italienische Vorspeise Carpaccio -, sich aber laut Wikipedia als Umschreibung für etwas sehr Eigenwilliges in Musik, Malerei und Literatur herausstellt.
Die Annäherung an das, nicht nur für (uns) Albstädter lesenswerte Buch, gelingt übrigens am besten, wenn man zuerst das Nachwort von Berthold Forssman liest (S. 304-315), dem versierten Übersetzer, der den Zugriff auf das Werk, und zudem auf die Briefe und Berichte beider Eheleute hatte. Paldies/Danke! Und den man wohl auch fragen könnte, welchem Zufall wir es zu verdanken haben, dass nach 75 Jahren diese Geschichte nun sogar in Buchform, wenn auch nicht auf Schwäbisch, nach Tailfingen, heute ein Ortsteil von Albstadt, zurückgekehrt ist. Fragt man mich, ist das Buch geschätzt gut hundert Pfifferlinge wert.
Und hier geht es gewohnt spitzfindig weiter.
#PreppoKompakt
Ein letzter Zufall. Die Bleibe, die das Ehepaar Eglītis/Janelsiņa – nach einer ersten Nacht im Hotel und mehreren Nächten in einer eiskalten winzigen Wohnung – für seine vier Tailfinger Jahre fand, gehörte damals einer Fabrikantenwitwe. Heute lebt in dem Haus in der Lammerbergstraße ein sehr guter Freund von mir. Ich, selbst unweit davon in der Wolfsgrubenstraße mit Hilfe der Hebamme Schöller 1952 zur Welt gekommen, konnte ihm diesen geschichtsträchtigen Umstand nun eröffnen.
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Eine Antwort
Sehr geehrte Damen und Herren,
vielen Dank für die positive Rezension. Es freut sich der Übersetzer!
Viele Grüße aus Berlin
Berthold Forssman