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Diskussion um Kerne befeuert

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Thema Kernenergie. Wenn selbst die geschäftsführende Bundeskanzlerin sich zum Thema Sonne, Wind und Kerne äußert, dann wird es langsam ernst. Prof. Dr. André Thess hatte uns ja noch bis 2030 Zeit gegeben – hier festgehalten. Aber manchmal geht es schneller als man denkt. Dennoch, die Widerstände und Denkblockaden sind immer noch sehr groß. Das erlebt und erfährt man auch im Freundes- und Bekanntenkreis, ja selbst in der eigenen Familie. Die sachliche Diskussion um Kerne befeuert und unterwirft auch existierende Beziehungen anständigen Belastungsproben. Aber sie ist enorm wichtig für die Zukunft unseres Landes. Und sie muss noch intensiver und offener geführt werden. Gegenwärtig kommen die Anstösse dazu überwiegend von außen.

Kipppunkte - Diskussion über Kernenergie

Beharrungsvermögen versus neue Erkenntnisse zur Kernenergie

Unser „Nachhaltigkeitspapst“ Helmut Federmann (HF) hat mit Bezug auf Felix Christian Matthes vom Öko-Institut und dessen Beitrag zum 2006 von der Heinrich-Böll-Stiftung herausgegebenen „Mythos Atomkraft – Ein Wegweiser“, Kapitel 6 „Atomenergie und Klimawandel“ (hier als Download verfübar) gleich mit drei Daumen nach unten gezeigt. Die Frage „Ist Atomkraft ein grünes Investment?“ splittet er auf: „Ob – ein ‚grünes‘: diskussionswürdig und äußerst fragwürdig! – ein ‚wirtschaftlich profitables‘: äußerst schwierig zu kalkulieren, beträchtliche Risiken! – ein ‚gesellschaftlich vernünftiges‘: schwer bis nicht vertretbar – ein ’nachhaltiges‘: definitiv nicht!“ Ähnlich hat übrigens auch ein Physiker aus der engsten Verwandtschaft auf meine bisherigen drei Kipppunkt-Artikel reagiert.

Das Öko-Institut, wo Dr. Matthes als Forschungskoordinator für Energie- und Klimapolitik wirkt, hat sich in Form des Gutachtens „Sicherheitstechnische Analyse und Risikobewertung einer Anwendung von SMR-Konzepten (Small Modular Reactors)“ vom September 2021 (hier als Download abrufbar) mit der Aussage „do not significant harm“ der EU Bewertung der Kernenergie sehr kritisch auseinandergesetzt. Auf die positive Aussage der EU bezieht sich weiter unten auch der Generaldirektor der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) sowie, im übertragenen Sinne, unsere Bundeskanzlerin.

Laut Tichys Einblick vom 17.11.2021 räsoniert Angela Merkel über den Vorschlag der EU-Kommission, die Kernenergie offiziell als nachhaltig anzuerkennen. Um dies zu verhindern, müßten 20 EU-Mitgliedsstaaten dagegen stimmen. „Das ist eine sehr hohe Hürde und ist voraussichtlich nicht der Fall“, so die Kanzlerin. Gemäß Einschätzung des Handelsblattes vom 22.11.2021 bietet uns Frankreich für die sog. EU-Taxonomie an, beides – Gas ebenso wie Kernkraft – als nachhaltig zu bewerten. Denn Frankreich könne sich die Taxonomie nicht ohne Atomkraft denken.

Einschlägige Erkenntnisse der Klimakonferenz in Glasgow zur Kernenergie

Zu den neuen Erkenntnissen der Klimakonferenz in Glasgow in Bezug auf die Rolle der Kernenergie ist in der NZZ vom 22.11.2021 (hinter Schranke) zu lesen: „Nach Schätzungen von Experten wird sich der weltweite Stromverbrauch bis 2050 verdoppeln. Eine CO2-freie Stromproduktion ist deshalb absolut notwendig, um die Klimaziele von Paris zu erreichen. In erster Linie soll das durch den Ausbau der erneuerbaren Energien geschehen. Aber auch die weitgehend CO2-freie Kernenergie wird heute wohlwollender beurteilt als nach dem Reaktorunfall in Fukushima. Manche reden gar von einem Revival der Kernenergie.“

Die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO) mit Sitz in Wien äußerte bei der Konferenz einen dringenden Handlungsbedarf, wenn die Kernenergie ihre heutige Rolle im Strommix behaupten wolle. Durch die Förderung der Kernenergie und Investitionen in neue Technologien, wie kleine modulare Reaktoren, könne sich die zur Verfügung stehende Leistung bis 2050 (auf rund 800 Gigawatt) verdoppeln. Womit sich etwa 12 Prozent des für 2050 prognostizierten Stromverbrauchs decken liessen, etwas mehr als heute. So die NZZ.

Subjektive Meinungen aus Wien und Paris im faz-net-Interview – dennoch nachdenkenswert

Generaldirektor der IAEO

In der faz-net vom 9.11.2021 (hinter Schranke) steht der Generaldirektor der IAEO, der Argentinier Rafael Grossi, Rede und Antwort:

Frage: „Die Atomkraft hat zu Unrecht einen schlechten Ruf?

Antwort: „Ja, denn dieser Ruf ist wissenschaftlich nicht gerechtfertigt. Aktivisten kann man vermutlich nicht bekehren, aber alle anderen müssen sich einfach an die Tatsachen halten. Und die sind glasklar, wie auch die Gemeinsame Forschungsstelle der EU, das JRC, festgestellt hat: Es gibt keinen Beleg dafür, dass Kernkraft mehr Schäden verursacht als andere Energieträger. Gerade in diesen Krisenzeiten müssen die Regierungen die richtigen Informationen erhalten, um die richtigen Entscheidungen zu treffen. Es geht um Fakten, nicht um Ideologien.“

Frage: „Deutschland schaltet bis Ende kommenden Jahres die letzten sechs Atommeiler ab. Ist der Ausstieg ein Fehler?“

Antwort: „Wir respektieren diese demokratische politische Entscheidung, aber wir sollten nicht vergessen, dass dieselbe Regierung, die 2011 den Atomausstieg auf den Weg brachte, sechs Monate zuvor die Laufzeiten der Kraftwerke noch verlängert hatte. Dann kam der Unfall in Fukushima. Das passierte zwar 10.000 Meilen weit weg, aber es gab damals Landtagswahlen in Deutschland, und man wollte ein Zeichen setzen. Als Chef einer wissenschaftlich-technischen Einrichtung muss ich es so deutlich sagen: Die Wissenschaft weist in eine andere Richtung als in die, in die sich Deutschland bewegt hat.“

Präsident des französischen Arbeitgeberverbands Medef

In der faz-net vom 10.11.2021 (hinter Schranke), stellt sich Geoffroy Roux de Bézieux, Präsident des größten französischen Arbeitgeberverbands Medef, den Fragen:

Frage: „Abgesehen vom Klimazoll sind sich Deutsche und Franzosen in Sachen Atomkraft nicht ganz einig. Stehen die Zeichen auch da auf Annäherung?“

Antwort: „Ich respektiere die Entscheidung der Deutschen, sich von der Atomkraft zu verabschieden. Aber man muss akzeptieren, dass es Länder in Europa gibt, die sie als nachhaltige Energiequelle wollen. Dafür braucht es Investoren. Frankreich wird nicht akzeptieren, dass die Atomkraft in der europäischen Taxonomie nicht als nachhaltige Energiequelle eingestuft wird. Das wäre für die französische Industrie ein Casus Belli.“

Frage: „Verhindert das Festhalten am Atomstrom nicht Investitionen in die Erneuerbaren?“

Antwort: „Im Gegenteil, die französische Industrie hat das Glück, zu 70 Prozent Strom aus Atomkraftwerken zu beziehen. Das sichert ihr einen Wettbewerbsvorteil . . .“

Frage: „. . . gegenüber Deutschland?“

Antwort: „Eine Rückkehr zur Atomkraft ist für die Deutschen ausgeschlossen. Aber sie müssen erkennen, dass sie neben einem Demographieproblem ein Energieproblem haben. Sie haben die schlechteren Energiequellen. Der Wind weht nicht 24 Stunden am Tag, und die Sonne scheint nicht 24 Stunden am Tag. Die Deutschen, eigentlich doch ein Volk rationaler Wissenschaftler, müssen sich dieser Wahrheit stellen.“

Exkurs: Urteil eines französischen Appellationsgerichts zu Windkraftanlagen

Eigentlich ja, aber manchmal verschließt die Wissenschaft fest Augen und Ohren. Und auch die deutsche Gerichtsbarkeit kann gelegentlich Anregungen von außen gebrauchen. In Tichys Einblick vom 10.11.2021 ist über Gesundheitsschäden durch Windkraftanlagen folgendes zu lesen: „Kopfschmerzen, schmerzhafter Druck auf den Ohren, Schwindel, Müdigkeit, Herzrasen, Tinnitus, Übelkeit, Nasenbluten und Schlafstörungen – all die wesentlichen Folgen, über die Anrainer von Windindustrieanlagen auch hierzulande leiden, sie sind keine Einbildung, sondern reale Folgen. Ein französisches Appellationsgericht hat Klägern Recht gegeben, die in der Nähe von Windrädern wohnen, und festgestellt, dass der Betrieb der Anlagen zu Veränderungen des Gesundheitszustandes geführt hat.“

In dem Berufungsverfahren stellte das Gericht fest, dass die Kläger unter dem Windturbinensyndrom leiden, das auf tieffrequenten Schall und Infraschall zurückzuführen ist. Die Kläger haben Anspruch auf Schadensersatz in Höhe von 128.000 Euro. Wichtig: Sie waren ursprünglich nicht gegen die Errichtung der Windenergieanlagen in der Nähe ihres Hauses. Auch wichtig: die Betreiber des Windparks haben die Widerspruchsfrist verstreichen lassen, das Urteil damit akzeptiert.

Künftiger Energiemix – zwei Innenansichten dazu im NZZ-Interview

Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR)

In der NZZ vom 10.11.2021 äußert sich eine der zur Zeit vier „Wirtschaftsweisen“, Frau Prof. Dr. Veronika Grimm, in Bezug auf Klimaneutralität zum Wasserstoff. (Laut dem Gesetz über die Bildung des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVG) sind es fünf Mitglieder; die neue Bundesregierung muß das Fünfte noch vorschlagen).

Frage: „Welche Rolle spielt Wasserstoff?“

Antwort: „Ohne den Einsatz von Wasserstoff und synthetischen Energieträgern können wir die Klimaneutralität nicht erreichen. Man muss die Industrie in grossem Umfang umrüsten. Zu Beginn wird grüner (mit erneuerbaren Energien erzeugter) Wasserstoff noch knapp und teuer sein. Deshalb sollte man pragmatisch im Übergang etwa auch blauen Wasserstoff verwenden, der viel günstiger ist. Das ist Wasserstoff, der auf Gasbasis erzeugt wird, wobei die entstehenden CO2-Emissionen eingefangen und eingelagert werden (carbon capture and storage). Sobald grüner Wasserstoff ausreichend verfügbar und günstig ist, kann man diese Anlagen dann damit betreiben.“

Auch hier erscheint Gas für eine Übergangszeit als nachhaltige Energiequelle, die Kernkraft hingegen wird im Interview überhaupt nicht angesprochen/erwähnt.

Co-Chef der DZ Bank

In der NZZ vom 17.11.2021 erklärt der Co-Chef der Nummer zwei am deutschen Markt, Uwe Fröhlich, wie Banken beim klimaneutralen Umbau der Wirtschaft helfen können. „Differenzen bei der Atomkraft“, steht zwar in einer Zwischenüberschrift, im Text aber – Fehlanzeige – folgen keine Ausführungen zur Kernkraft. Für die gewohnt hohe Qualität der NZZ-Artikel ein recht ungewöhnlicher Vorfall. Was da wohl dahintersteckt?

Frage: „Ist der Umbau der Wirtschaft also ein Konjunkturprogramm für Banken?“

Antwort: „Man könnte das vermuten … . Aber für die Unternehmen müsse der Umbau stemmbar und die dafür nötige Kreditaufnahme tragbar sein. Deswegen werde es ohne ergänzende öffentliche Programme nicht gehen, beispielsweise durch Förderinstitute wie die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW).“

Und Fröhlich fügt warnend hinzu: „Es bringt übrigens wenig, ständig verschärfte Klimaziele zu veröffentlichen und Ausstiegsfristen zu verkürzen. … Die Ziele müssten machbar und wirtschaftlich vertretbar sein. … Wirtschaft und Banken müssten die Chance haben, auf Basis marktwirtschaftlicher Prozesse in die Ziele hineinzuwachsen.“

Und hier wird es wieder spitz, spitzer, Angela Merkel treibt es auf die Spitze.

#PreppoKompakt

Diskussion um Kerne? Deutschland im Wendemanöver? Die entsprechenden Passagen im heute veröffentlichten 177 Seiten langen Koalitionsvertrag „Mehr Fortschritt wagen“ der Ampel aus SPD, Grünen und FDP geben das nicht her. Im Kapitel III „Klimaschutz in einer sozial-ökologischen Marktwirtschaft“ wird auf den Seiten 24 bis 65 dreimal die Kern-/Atomkraft thematisiert. Auf Seite 54 steht dazu: „Am deutschen Atomausstieg halten wir fest.“ Auf S. 60 wird im Zusammenhang mit der Erneuerbaren-Energie-Richtlinie die Technologieoffenheit betont, allerdings versehen mit dem Zusatz, „… dabei schließen wir Atomkraft weiterhin aus.“ Und der letzte Absatz auf S. 65 beschäftigt sich mit Atom bezogen auf die Endlager-Thematik, verbunden mit dem Versprechen: „Wir setzen uns auf internationaler und europäischer Ebene dafür ein, dass die Atomenergie für die von ihr verursachten Kosten selbst aufkommt.“ Die Errichtung moderner Gaskraftwerke, so gebaut, dass sie auf klimaneutrale Gase umgestellt werden können (H2-ready), wird hingegen mehrfach erwähnt. Auch in Verbindung mit blauem und grünem Wasserstoff.

Eine Antwort

  1. Ein sehr umsichtiger, äußerst aktueller und diskussionswürdiger Beitrag zu einer noch, notwendigerweise vertiefungsfähigen und sicher weiterhin kontrovers bleibenden Thematik. Welche Rolle spielen z.B. die „Energiebedarfsprognosen“ und deren zugrunde liegende Methodik in der Diskussion um die Feststellung zukünftigen Energiebedarfs? Welche Rolle spielen dabei mögliche und notwendige Einsparpotentiale (nicht Effizienzpotentiale > Achtung Reboundeffekte!)? Die Fragen der „Ewigkeitskosten“ der Lagerung abgebrannter Brennelemente, oder die Implikationen von „dual use“ (militärisch und zivil) des Rohstoffs Uran usw. usw. … Für die Vertreter des bisher gedachten „wirtschaftlichen Wachstums“ scheint der Einsatz der begrenzten Ressource „Uran“ offenbar unverzichtbar. Für Vertreter einer gesellschaftlichen Entwicklung, deren Ausgangspunkt die biophysikalischen Gegebenheiten sowie die Anerkennung und Respektierung der naturgesetzlichen Begrenztheiten durch die Entropie (vgl. SODDY) darstellen, bleibt der Einsatz dieser Ressource weiterhin nicht erwägenswert.

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