Alles könnte anders sein – Utopie, aber wirklich

Erinnern wir uns an die Aussage des Marburger Soziologie-Professors Martin Schröder: Der hatte seinen Fachkollegen vorgeworfen, sie „… befänden sich in einem von der allgemeinen Öffentlichkeit auch nachgefragten Überbietungswettbewerb in Negativität. Erfolg habe, wer die zeitdiagnostische Untergangsklaviatur besonders virtuos bespiele.“ Im krassen Gegensatz dazu, regelrecht außerhalb der Konkurrenz, Professor Harald Welzer. Er entwirft in seinem im Februar 2019 im S. Fischer-Verlag erschienenen Buch „Alles könnte anders sein“ eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen. Und er hebt sich dadurch wohltuend ab, ohne abzuheben. Der 61jährige über sich: „Ich persönlich bin religiös leider total unmusikalisch, beneide aber diejenigen, die mehr glauben können als ich.“

Der frühe Vogel fängt den Welzer

Wer am Sonntag, den 5. Januar 2020, ab sechs Uhr schon beim Frühstück saß und den SWR eingeschaltet hatte, konnte ein knapp zehnminütiges Interview mit Harald Welzer mitverfolgen. Dies allein reichte aus, um den Appetit auf sein Buch zu wecken, dessen Taschenbuchausgabe für Ende April angekündigt ist. Wikipedia kommt darin vor als ein Beispiel für ein „Gemeingut“ und Welzer kommt natürlich in Wikipedia vor. Neben seiner Arbeit als Hochschullehrer in Flensburg und St. Gallen ist er einer von zwei Direktoren der Futurzwei-Stiftung, die Geschichten von besseren Lebenstilen und einer gelingenden Zukunft sammelt.

Das Buch hat mit Anmerkungen knapp über 300 Seiten und ist in drei große Kapitel, zwei Zwischenspiele sowie zwei kleinere Kapitel mit Zukunftsbildern beziehungsweise 11 kurzen Merksätzen sauber gegliedert. Es verwendet zunächst prinzipiell die weibliche Form, in der ja auch die männliche steckt. So auf S. 67f „Dombaumeisterinnen“ (gab es darunter überhaupt Frauen? Wenn ja, wohl erst in heutiger Zeit, z.B. im Kölner Dom) und auf S. 143 „Nutzerinnen“. Eine akzeptable Sprachregelung, die allerdings im Laufe des Buches ad acta gelegt wird. Dafür wird durchgängig mit Lego-Bausteinen gespielt.

I. Wiedergutmachen

In einer unscheinbaren Vorbemerkung legt der Autor sein Bekenntnis zum Metabolismus ab, der die lebensnotwendigen biochemischen Vorgänge berücksichtigt. Diese Stoffwechselvorgänge werden, dies eine gängige Kritik, von der herrschenden Lehre in der Wirtschaftswissenschaft weitestgehend ignoriert oder unterschlagen. Auch deshalb konsumiere unsere Ökonomie ihre eigenen Voraussetzungen (S. 29). Wir seien Teil eines gigantischen Experiments, das von der Hypothese ausgeht, dass grenzenloses Wachstum auf einem begrenzten Planeten möglich ist. Diese Annahme sei schon seit den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts widerlegt. Damals sei ein Pfadwechsel noch möglich gewesen, heute auch das allerletzte Land der Erde auf den wachstumskapitalistischen Weg eingeschwenkt (S. 71). Diese im Vergleich zum 20. Jahrhundert weniger komplexe Weltgesellschaft lasse für Alternativen nur ein eingeschränktes Vorstellungsvermögen zu (S. 33f).

Zugleich konstatiert der Autor: „Die liberale rechtsstaatliche Demokratie ist die zivilisierteste Form von Gesellschaft, die es jemals gegeben hat. … Sie ist veränderungsoffen.“ (S. 37). Man könne Dinge ändern, sozusagen „wiedergutmachen“. Die Moderne als entwicklungsfähiges Projekt (S. 48). Glück könne nicht geliefert werden, während der Mensch als soziales Wesen über gelingende Beziehungen ein tiefes Glück empfinde (S. 61 und 66). Auch sei eine Langfristorientierung „… weitaus produktiver als die heutige Diktatur der Gegenwart.“ (S. 68). Und: „Es kommt ja, ein bestimmtes Niveau von Lebenssicherheit vorausgesetzt, für das Glück und das gelingende Leben nicht darauf an, mehr zu haben, als man braucht, sondern die Menschen zu haben, die man braucht.“ (S. 70). Darum – so meine Anmerkung (JG) – auch alle die offenen oder subtilen Versuche von Menschen mit Geld, Menschen mit Geld für sich einzunehmen.

Zwischenspiel I – Realismustraining

„Realismus heißt auch: im Rahmen seiner Möglichkeiten und seiner Reichweite Dinge verändern.“ (S. 74). Es komme darauf an, einen Unterschied machen zu wollen (S. 76), auf eine neue Kombinatorik. Nicht auf „den neuen“ Menschen oder „die neue“ Gesellschaft. Ein Quantensprung ist in der Quantentheorie, entgegen der gebräuchlichen Anwendung, die kleinstmögliche Zustandsveränderung, eher ein Übergang. In diesem Sinne plädiert der Autor für viele Quantensprünge. Große Visionen von einer neuen Gesellschaft und/oder dem neuen Menschen, haben sich in der neueren Geschichte verbunden mit „großen“ Führern wie Hitler, Stalin und Pol Pot regelmäßig als todbringend erwiesen (S. 77f). Also darum geht es Harald Welzer: mit vielen kleinen realistischen Schritten das Ziel einer besseren Gesellschaft zu erreichen.

II. Alles könnte anders sein – Weiterbauen

Ein Spiel mit 17 Lego-Steinen, von denen an dieser Stelle exemplarisch sechs herausgegriffen werden:

Die ersten drei Steine

Bei der Wirtschaft – dem 1. Legostein – möchte der Autor sogar Papst Franziskus überholen, da sich dieser zu wenig visionär zeige (S. 88). Einigkeit gibt es in Bezug auf die dienende Funktion der Wirtschaft, einschließlich der Trias von Nachhaltigkeit, Gerechtigkeit und Gemeinwohl. Im Prinzip gehe es darum, das Programm der Aufklärung fortzusetzen, „… damit Menschen ohne Angst voreinander Beziehungen zur Welt und zueinander eingehen können, die das Leben mit Sinn erfüllen.“ (S. 89).

Im Rahmen des 3. Steins geht es darum, über die Sicherung menschenwürdiger Lebensverhältnisse für alle nachzudenken. Dabei ist die Umverteilung ein Thema, auch weil man in unserer modernen Gesellschaft die eine oder andere Leistung abbauen könne, ohne Lebensqualität zu verringern (S. 101). Bedürfnisbefriedigung macht nur Sinn, wenn dadurch das Wohlbefinden/Glück gesteigert wird. Hier gibt es, wissenschaftlich belegt, gewisse Sättigungspunkte (S. 102). Auch der Glauben, das Glück liege im Konsum, erscheint widerlegt. Ein aufgeklärter Kapitalismus soll zudem für gleiche Lebenschancen überall auf der Welt sorgen (S. 106).

Der 4. Legostein „Warum eigentlich immer arbeiten?“ nimmt eine Anleihe bei Mark Twain auf. Demzufolge besteht „… Arbeit … darin …, daß man etwas tun muß, daß dagegen Vergnügen ist, was man freiwillig tut.“ (S. 114). Kritisch zur Digitalisierung wird angemerkt, dass dadurch nicht weniger, sondern mehr gearbeitet werden muss, weil Arbeit auf die Verbraucher übertragen wird. So werden organisatorische Vorteile ausgenutzt, um Kunden arbeiten zu lassen, wodurch Arbeitsplätze wegfallen. Der Autor sagt voraus, dass dies kräftig zunehmen wird, verstärkt durch die sogenannte Plattformökonomie (S. 114f). Ein tiefgreifender Strukturwandel mit negativen und positiven Wirkungen: es verschwinden schwere, schmutzige, gesundheitsschädliche Arbeiten, aber auch geistige Tätigkeiten, die standardisiert werden können (S. 116f).

Drei weitere Steine

8. Stein: Solidarität. Über Mitfühlen zum Mithandeln. Dabei erzeugt unsere Hyperkonsumkultur die Knickrigkeit als verbreitete Verhaltensnorm sowie ausgeprägte antisolidarische Tendenzen. Und vor allem latente Aggression, die immer wieder auch manifest wird (S. 136-138). Als Gegenpol ist unbedingt „… das Einüben von Empathie, Hilfeleistung, Unterstützung …“ notwendig (S. 141). 

Beim 12. Stein geht es um die Freundlichkeit. Die „1968-Bewegung“, der Autor spricht gar von Kulturrevolution, hat eine Phase der Informalisierung eingeleitet, die viele starr gewordene Regeln verflüssigte (S. 161). Je mehr heute nun Respekt und Anerkennung in der Gesellschaft einfordert werden, desto weniger stabil sind diese Haltungen geworden. Sie gelten nicht mehr (als) selbstverständlich. Eine wahrnehmbare Verrohung im zwischenmenschlichen Umgang zeigt, dass da etwas schief läuft und gegengesteuert – wiedergutgemacht – werden muss. 

Der 16. Legostein thematisiert Verschiedenheit und Erfahrung, beide ganz wichtig für Zukünftigkeit. Sie entstehen in Kultur und Natur nur aus dem Zusammentreffen disparater Elemente, aus Widersprüchen, unterschiedlichen Erfahrungen und Charakteren (S. 176). Der Kampf um symbolische Anerkennung, z.B. durch bestimmte Sprachregeln, führt – wie es Welzer nennt – lediglich zur Skandalisierung von Mikroaggressionen (S. 179). Das eigentliche Problem bleibe ungelöst. Weitaus besser ist die Abarbeitung von Konflikten und Widersprüchen. Denn die Reibung erzeugt einen sozialen Temperaturanstieg, ein neues Niveau des Zusammenlebens, Reibungslosigkeit hingegen den kulturellen Kältetod (S. 180f). 

Zwischenspiel II – Modulare Revolutionen

Eine kombinatorische Arbeit mit sehr vielen kleinen Transformationen, die flexibel weiterbau- und korrigierbar ist. Vor allem auch kein Expertenprojekt, sondern in den Lebenswelten entworfen und erprobt. Im Ergebnis ein Mosaik gelingender Verbesserungen der Welt (S. 188). Also Heterotopien statt Utopien, was der Autor an einem konstruierten Beispiel in vier Schritten darlegt: 1. Der Senat in Berlin verbietet, dass Schulkinder mit privaten Autos zur Schule gebracht werden. 2. Die Stadt Kopenhagen fördert weiter gezielt den Fahrradverkehr und übernimmt auch die Berliner Regelung. 3. Hannover als erste autofreie Großstadt übernimmt sowohl das Berliner als auch das Kopenhagener Modell. 4. Die Verkehrswegeinfrastruktur kann zurückgebaut, die Begegnungsqualität im öffentlichen Raum erhöht werden. Dies eröffnet weitere Möglichkeitsräume. „Das heißt: es werden ganz neue Pfadabhängigkeiten geschaffen, wenn konkrete Heterotopien Wirklichkeit werden.“ (S. 191).

III. Der neue Realismus

Den neuen Realismus beschreibt der Autor anhand von 10 Begriffen oder Bereichen. Wir greifen wiederum einige, das heißt fünf exemplarisch heraus. Das Ganze wird eingeleitet durch die Kinderhymne von Bertold Brecht, im Grunde genommen eine Liebeserklärung an ein gutes Deutschland. Hiervon zu Beginn vermutlich regelrecht durchdrungen, kritisiert der Autor, dass im Spätsommer 2015 eine Sternstunde „verstolpert und verhunzt“ worden sei. Er springt damit in Sachen Flüchtlingshilfe der Bundeskanzlerin bei, ohne sie namentlich zu erwähnen (S. 196). An anderer Stelle unterstreicht er, wie heimatverbunden Menschen sind und bezeichnet die Angst, überfremdet oder unterwandert zu werden, als reinsten Quatsch (S. 200f). Er vergleicht Migranten- mit Touristenströmen und spricht sich auch gegen den Begriff Wirtschaftsflüchtling aus. Aus meiner Sicht (JG) insgesamt eine zu optimistische Einschätzung, getragen von einem sehr positiven Menschen- und Religionsbild. Ein Blick ins Tierreich könnte nicht schaden.

Sinn realistisch: 

Eine Gesellschaft in der Hierarchien keine Rolle spielen. In der Schweiz mutet der öffentliche Raum fast hierarchiefrei an. Sie hat, wie auch die Niederlande, nach Ansicht des Autors ein höheres Zivilisierungsniveau. Das führt zu einem angenehmeren und interessanteren Alltag und einer freundlichen Gesellschaft. Er hinterfragt nicht, welche Rolle hierbei die Größe des Landes spielen mag.

Wirtschaft realistisch:

Gemeinwohl, hat immer auch das Wohlergehen aller zum Ziel. Der Autor beschreibt verschiedene Strategien zur Herstellung von Gemeinwohl: über die Gemeinwohlbilanzierung, Commons/Gemeingüter (ein Beispiel ist Wikipedia) und Genossenschaften (S. 221ff). Ziel ist die Internalisierung der externen Effekte. Weitere Instrumente sind die Regionalwert AG, Reallabore sowie das urban gardening (S. 240ff). 

Stadt realistisch:

Die Stadt ist die dauerhafteste und resilienteste Sozialform. Ohne private Autos, dafür mit kostenlosem ÖPNV bietet sie reichlich Raum für Begegnung. Der Autor sieht in den Stadtoberhäuptern heute die eigentlichen Modernisierer (S. 245). Er spricht sich für die Schaffung analoger Räume aus, in denen statt virtueller, wieder öffentliche Debatten stattfinden können. Diese seien notwendig, wenn wir die Demokratie erhalten wollen (S. 253).

Arbeit realistisch:

Das bedingungsloses Grundeinkommen verbürgt ein Recht auf Einkommen ohne zu arbeiten. Nach Harald Welzer ein echter kultureller Bruch, zugleich die Modernisierungschance. Durch die Digitalisierung entstünde schon ein neuer Arbeitsbegriff (S. 255). Die rund 1200 €/Monat für Erwachsene könnten über eine Finanztransaktionssteuer und Kosteneinsparungen im Sozialverwaltungsbereich (u.a. durch Wegfall der Kontrollen) finanziert werden. Dabei ist die Wirkung noch nicht eindeutig bestimmbar, ob passivierend oder aktivierend? Auf jeden Fall würde das bedingungslose Grundeinkommen Druck aus dem System nehmen und das Ende der Hyperkonsumgesellschaft einläuten (S. 261f). Nicht zuletzt ein wirksames „… Instrument zur Rückkehr der sozialen Marktwirtschaft …“, so Welzer (S. 263). 

Wiedergutmachen realistisch:

Wie schon im vorderen Teil des Buches tadelt der Autor die Klimaforschung: Sie ist „… zum apokalyptischen Reiter der Umweltszene geworden und überbietet sich ständig selbst … . Wissenschaft als Dystopie.“ (S. 277). Sie erzeugt „… eine kitschige Aura des globalen Verhängnisses, das über unseren Häuptern dräut, und ebendas ist hoch ideologisch.“ (S. 278). Er möchte stattdessen restaurieren, was beschädigt wurde, eben wiedergutmachen. So beschreibt er unter anderem verschiedene internationale Inititativen im Bereich Waldlösungen für den Klimaschutz. „Also: Wir nehmen jetzt den Untergangspropheten mal ihre Uhr weg, die … auf 5 vor 12 stehengeblieben ist … . Für die Lamentierökos kann man Nölreservate einrichten. Da kann man hingehen, wenn man zu viel gute Laune beim Aufräumen bekommen hat und mal wieder schlecht drauf sein möchte.“ (S. 283). Schön formuliert!

Zukunftsbilder sowie Merksätze zum neuen Realismus

Mit dem Widerstand gegen die Fortschreibung des Bestehenden geht die gelebte Erfahrung von Veränderung einher und beflügelt. Es „… braucht kreative Formen des Protests, Musik, Kleidung, eine Ikonographie der Zukünftigkeit.“ (S. 287). Erfahrungsgemäß, sei das meiste, was wir für eine Gesellschaft für freie Menschen brauchen schon da. „Man muss es nur auseinandernehmen, anders wieder zusammensetzen und den Illusionisten der Gegenwart um die Ohren hauen.“ (S. 290). Für den entsprechenden Protest und Kritik hilfreich können ästhetische Strategien mit Kunst sein, wie z.B. vom Peng!-Kollektiv. „Was uns also noch dringend fehlt für die Realisierung des Utopischen: mehr Sexyness, bessere Geschichten, der coolere Auftritt.“ (S. 293). In elf einfache (Merk)Sätze packt Harald Welzer zum Schluß seine Botschaft, auch ganz einfach auswendig zu lernen. Die Sätze werden hier nicht referiert, denn Sie wollen das Buch* ja schließlich noch selbst lesen.

Und hier geht es noch spitzfindiger weiter.

#PreppoKompakt

Lesenswert auf jeden Fall, vor allem auch wegen der Denkanstöße und dem begründeten Optimismus. Wenn Veränderung sein muss, dann ist dies ein erfolgversprechender Weg. Human mit Weitblick, vernünftig, realistisch, demokratisch. Wie von Harald Welzer umschrieben: ein Mosaik gelingender Verbesserungen. Und reichlich Diskussionsstoff. Vieles kann anders sein und in der Tat auch funktionieren.

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