Markt und gerechte Verteilung. Denkanstösse können vielfältigen Quellen entspringen. Nun mag man solcher „Preisverleihungen“ vielleicht schon überdrüssig sein – weil es zuviele, und darunter zunehmend fragwürdige gibt. Denken wir nur an den mehrfach zu unrecht „hochdekorierten“ Spiegel-Journalisten Claas-Hendrik Relotius.
Aber zwei Kategorien sind Stand heute wohl über jeden Zweifel erhaben: Der schwedische Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften, seit 1969 verliehen, und der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, den es seit 1951 gibt. Wenn nun Amartya Sen mit großem zeitlichen Abstand sowohl ersteren, in 1998, als auch letzteren, in 2020, erhalten hat, lohnt es sich doppelt, über diesen 1933 in Britisch Indien geborenen und in Cambridge/Massachusetts/USA sowie Cambridge/England lebenden Mann zu reflektieren. Insbesondere über die Ergebnisse seines berufslebenlangen Nach- und Vorausdenkens. Nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund von Corona.
Bekenntnis zu Demokratie und Gerechtigkeit
Die Zusammenhänge sind für Amartya Sen klar: Die Demokratie ist die Voraussetzung für Gerechtigkeit. Und globale Gerechtigkeit gelingt nur, wenn wir uns die Welt teilen. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier würdigte Sen in seiner verlesenen Laudatio zur Friedenspreisverleihung in der Frankfurter Paulskriche als Weltbürger und moralische Instanz (festgehalten in einer Sondersendung der ARD am 18.10.2020, in der Mediathek ein Jahr lang verfügbar). Den Preis als „Bürgerkrone der Menschlichkeit“ habe Sen verdient, weil er auf das Wohlergehen der Menschen schaue. Dabei sei die Corona Pandemie eine Nagelprobe der Solidarität.
Was Sen uns zu sagen hat
„Die Welt teilen. Sechs Lektionen über Gerechtigkeit“* ist der Titel eines Buches mit knapp 130 Seiten, das pünktlich zur Friedenspreisverleihung im Verlag C.H.Beck in München erschienen ist. Es fasst sechs nach der Jahrtausendwende entstandene Essays zusammen. Das jüngste, datierend aus 2014, gibt eine Rede wieder, die Sen zur Eröffnung des größten Literaturfests in Asien in Jaipur, Hauptstadt des indischen Bundesstaates Rajasthan, gehalten hat.
Gleich zu Beginn des Vorworts zum Buch bezieht sich Amartya Sen auf John Maynard Keynes und dessen offensives Eintreten für die öffentliche Meinungsbildung in Richtung Vernunft und Kooperation. Er sieht sich, ein Jahrhundert später, in dessen Fußstapfen. In den Essays stellt Sen laut NZZ vom 18.10.2020 bohrende Fragen und gibt auch klare Antworten. „Was nützt es, ausreichend Lebensmittel zu produzieren, wenn sie nicht zu denen gelangen, die sie am dringendsten brauchen? … Der Markt müsse gestärkt werden – und alle müssten Zugang haben dazu.“ Gegen Armut „… gebe es nur ein Mittel: mehr Markt!“
Wirtschaftliche Folgen von Corona
Wir hatten uns im Blog bereits hier gefragt, welchen Verlauf die wirtschaftliche Entwicklung infolge von Corona wohl nehmen werde. In der NZZ vom 12.10.2020 (hinter Bezahlschranke) wird die Situation in der Schweiz durchleuchtet. Es ergibt ein Bild, das im Großen und Ganzen wohl auch auf Deutschland zutrifft.
Wer derzeit mit einer fulminanten V-Erholung rechne – und das seien noch viele Ökonomen – dürfte falsch liegen. Nachdem sich die epidemiologische Lage verschlechtert habe, schränkten Staaten den freien Austausch wieder ein.
„Damit rückt, erstens, … die erhoffte Erholung der Weltkonjunktur und der angeschlagenen Schweizer Exportwirtschaft in weite Ferne. Laut einer kürzlichen Umfrage von Economiesuisse bekunden bereits heute mehr als 70 Prozent der hiesigen Exportbetriebe Absatzprobleme. Besonders hart betroffen sind die exportorientierten Firmen der Maschinen-, Elektro- und Metall-Industrie.
Hinzu kommen, zweitens, diverse behördliche Schutzvorschriften wie Einschränkungen für Klubs und öffentliche Veranstaltungen, Quarantäne- und Isolationsmassnahmen sowie Reiserestriktionen. Letztere erschweren internationale Geschäftsbeziehungen und bringen den internationalen Tourismus zum Erliegen. Viele Reisebüros sowie Hotelbetriebe befinden sich in Existenznöten. Der interkontinentale Flugverkehr ist weitgehend zusammengebrochen. Auch der Event-Bereich liegt praktisch darnieder. …
Drittens scheint … die derzeitige Ruhe am Arbeitsmarkt eher trügerisch. Bisher sind … schon über 50 000 Personen arbeitslos geworden. Viele ehemalige Stellensuchende dürften sich bereits entmutigt vom Arbeitsmarkt zurückgezogen haben. Covid-19-Kredite sowie Kurzarbeit haben die Situation zwar abgefedert. Doch hält die Unsicherheit längere Zeit an, brechen Lieferketten und Kundenbeziehungen definitiv weg und werden Unternehmen vermehrt in Zahlungsschwierigkeiten geraten. Die Zahl der Entlassungen, Betriebsschliessungen und Konkurse wird in den kommenden Monaten wohl steigen.“ Soweit Nicole Rütti in der NZZ.
Ergebnisse der GBP Corona Befragung
Dies deckt sich mit den Ergebnissen einer von der Universität Mannheim im September durchgeführten Befragung, dem German Business Panel (GBP), zur Wirkung und Zielgenauigkeit der staatlichen Hilfen für Unternehmen in der Krise (das Executive Summary ist hier als Download verfügbar). Den Ergebnissen liegen 9.301 Antworten zugrunde aus 73 Branchen. Sie sind auf die Grundgesamtheit aller Unternehmen in Deutschland hochgerechnet.
Demzufolge haben zwei Drittel staatliche Hilfen in Anspruch genommen. Knapp die Hälfte dieser Unternehmen hätte die Krise nach eigener Einschätzung ohne staatliche Hilfe nicht überstanden. 59/43% der Unternehmen hatten mindestens einen Umsatzrückgang von 10/30 %.
80 % der Unternehmen erwarten eine zweite Welle. Etwa die Hälfte geht davon aus, dass die Einschränkungen durch die Corona-Krise noch länger als ein Jahr dauern werden. Die Reisebranche, Gastronomie und Getränkehersteller sowie Dienstleistungen des Sports, der Unterhaltung sowie der Erholung und kreative, künstlerische und unterhaltende Tätigkeiten müssen infolge Corona mit dem stärksten Gewinneinbruch (über)leben.
Das GBP-Fazit: Staatliche Hilfen kommen an, reichen aber allein nicht aus. Viele Unternehmen müssen auf Lohnerhöhungen verzichten, Preise erhöhen oder Arbeitsplätze abbauen.
Kosten von rund 1,5 Billionen Euro
Laut faz-net vom 18.10.2020 rechnet die Bundesregierung damit, dass die Bewältigung der Corona-Krise die öffentlichen Kassen in den Jahren 2020 und 2021 insgesamt 1,446 Billionen Euro kosten wird. Im laufenden Jahr sind es 400,4 Milliarden Euro allein für den Bund. Die Haushalte von Ländern und Gemeinden werden mit zusätzlichen 89 Milliarden Euro belastet. Die Mehrausgaben und Einnahmeausfälle bei den Sozialkassen beziffert das Finanzministerium mit 26,5 Milliarden Euro.
Für 2021 plant das Ministerium mit Corona-bedingten Zusatzbelastungen für den Bundeshaushalt in Höhe von 74 Milliarden Euro. Die Budgets von Ländern und Gemeinden dürften mit 27,3 Milliarden Euro zusätzlich belastet werden, die Sozialversicherungen mit 2,8 Milliarden.
Hinzu kommen staatliche Garantien mit 756,5 Milliarden Euro für den Bund und 69,8 Milliarden Euro für die Länder. Hier schwingt noch die Hoffnung mit, dass am Ende die Verluste nicht ganz so hoch ausfallen werden.
Verschuldungssituation weltweit
Nach aktuellen Berechnungen des Internationalen Währungsfonds (IMF) überschreiten die Staatsschulden im weltweiten Durchschnitt die Schwelle von 100% am Bruttoinlandprodukt (BIP). Das berichtet die NZZ vom 14.10.2020. So hoch waren die staatlichen Schuldenberge noch nie – nicht einmal zum Ende des Zweiten Weltkrieges.
„Am sinnvollsten wäre es wohl, wenn Staaten in nächster Zeit bereits existierende und validierte Investitionsprojekte zeitlich vorziehen würden. Das könnte der Baubranche helfen, wird aber die Investitionsgüterindustrie auch nicht vor einem Einbruch des Auftragseingangs bewahren. Insgesamt bleibt der Eindruck, dass die Schuldenberge bedrohlich wachsen und vielenorts allzu bedenkenlos damit umgegangen wird. Denn letztlich werden so immer höhere Lasten auf die künftigen Generationen von Steuerzahlern und Gläubigern abgewälzt.“
Tendenz vom Markt in Richtung Planwirtschaft
Auch der Chef des Münchner Ifo-Instituts, Clemens Fuest, warnt bei einem Vortrag am letzten Donnerstag an der Universität Zürich – so zu lesen in faz-net vom 22.10.2020. Dirigistische Ansätze würden dominieren, auch weil in der Pandemie die Staatsgläubigkeit zugenommen habe.
„Zwar zeigte er Verständnis für die Corona-Hilfen auf europäischer Ebene, auch den Anleihekauf der Europäischen Zentralbank. Ebenso sei klar, dass der Staat in der Krise als Retter erscheine. Ein Teil der EU-Hilfen ist laut Fuest aber nichts weiter als ein ’schuldenfinanzierter Transfer‘.“
Besonders scharf kritisierte er den ‚Green New Deal‘, mit dem die Kommission die EU klimaneutral machen will, und die Taxonomie, mittels derer Finanzprodukte als nachhaltig klassifiziert werden sollen. Er sieht in Letzterem „… eine ‚bürokratische Einteilung der gesamten Wirtschaft‘, die zu Planwirtschaft und einer Lenkung von Kapital führe. … Das erinnere an die Wirtschaftspolitik der Sowjetunion.“
Zurück zu Keynes und Sen
Damit wären wir wieder zurück am Ausgangspunkt, bei Keynes und Sen, bei Markt und Staat. Keynes hätte wohl ebenfalls den Wirtschafts-Nobelpreis erhalten, hätte es diesen zu seinen Lebzeiten schon gegeben. Sein „deficit spending“ hatte in der alten und neuen Welt ein gewaltiges Umdenken bei Ökonomen und Politikern bewirkt.
In einem offenen Brief an US-Präsident Franklin D. Roosevelt im Dezember 1933 hatte Keynes diesen „Mechanismus“ beschrieben. Die Konjunktur könne entweder durch höhere Ausgaben der Privaten belebt werden, indem die Privaten weniger Geld aus ihrem laufenden Einkommen sparen. Oder die Firmen sollten durch Zinssenkungen zu mehr Beschäftigung angeregt werden. Oder aber der Staat müsse durch Kreditschöpfung für mehr Einkommen sorgen. Auf dem Tiefpunkt einer Krise könne jedoch nur der Staat durch die Inkaufnahme eines Haushaltsdefizits mit vermehrter Schuldenaufnahme den Anstoß zur Überwindung der Krise geben (nachzulesen hier auf Wikipedia).
Auf Abwegen
In faz-net vom 22.10.2020 (hinter Bezahlschranke) sieht einer der vier Herausgeber der FAZ, Gerald Braunberger, heutige Ökonomen und Politiker auf Abwegen. Denn die expansive Finanz- und Geldpolitik dürfe nicht dauerhaft sein. Er kann sich dabei auf Keynes selbst berufen. Dieser hatte im Januar 1937 in der ‚Times‘ gleich mehrfach vor den Exzessen einer Politik der Konjunkturstimulierung gewarnt. „Obgleich die Zahl der Arbeitslosen in Großbritannien damals noch hoch war, plädierte Keynes angesichts einer in Gang gekommenen Erholung der Konjunktur für eine Rückkehr zu einer zurückhaltenderen Geld- und Finanzpolitik, um das Pulver für eventuelle zukünftige Krisen trocken zu halten.“
Und auch 2020 gilt: „So richtig es war, nach Ausbruch der Krise im Frühjahr eine expansive Finanzpolitik zu betreiben, so falsch wäre es, darüber nun die im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse abzuschaffen.“ So der FAZ-Herausgeber.
Für jeden Tag der Woche einen Wunsch frei
Für den Vortrag in Jaipur in 2014 schlüpfte Amartya Sen in die Rolle des Märchenonkels. Er erzählte dem staunenden Publikum von einer Göttin, der er hoch über den Wolken begegnet sei und die ihm – vermutlich weil sie ihn sympathisch fand – sieben Wünsche für sein Land, also Indien, freistellte. Auf die Verhältnisse in unserem Land übertragen wären das etwa folgende Wünsche:
Montag – im Bildungssystem sollten naturwissenschaftliche Fächer wieder eine größere Rolle spielen.
Dienstag – im Parteienspektrum auch eine Markt und Wirtschaft favorisierende Partei vertreten sein. Leitbild soziale Markwirtschaft im Sinne Ludwig Erhards. „Wohlstand für alle“ – gerechte Verteilung.
Mittwoch – statt Imperialismuskritik sollten sich die Linksparteien stärker mit den Bedürftigen in unserer Gesellschaft beschäftigen.
Donnerstag – der Wunsch an die Medien, vermehrt kritische Positionen gegenüber den Regierenden einzunehmen, um notwendige Diskussionen anzustossen. Den Bildungsauftrag des öffentlichen Rundfunks ernst und Untenhaltungsprogramme vom Schirm nehmen. Auf eine qualitätsvolle Berichterstattung setzen. Und (m)ein spezieller Wunsch an die FAZ. Die auf Tichys Einblick hier zum Ausdruck gebrachte Kritik sehr ernstzunehmen und die immanenten Vorteile – als unabhängige Stiftung mit einem starken Herausgebergremium auch in der Tradition, beispielsweise eines Frank Schirrmachers – wieder besser auszuspielen.
Freitag – das Gesundheitswesen so auszugestalten, dass normale Abläufe, vor allem aber auch Krisen sicher bewältigt werden können.
Samstag, Sonntag – immer so weiter, immer fort. Nun wollen wir die besagte Göttin nicht überfordern. Und stattdessen einen Wunsch kolportieren, den Amartya Sen bei der Preisverleihung in der Paulskirche geäußert hat (ab ca. 46:30 in der ARD-Sondersendung – siehe oben): Nach dem Lob auf Bücher – wir alle sollten mehr lesen, mehr reden und, unter Bezugnahme auf Immanuel Kant, mehr disputieren. „Insbesondere über Dinge, bei denen wir möglicherweise uneins sind.“
Nagelprobe der Solidarität – Verteilung des Impfstoffs
Apropos Nagelprobe der Solidarität. Das Mindeste ist, einen Impfstoff für alle Länder zu entwickeln und zur Verfügung zu stellen. Diese Forderung erhebt auch Ángel Gurría, Chef der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) in Paris, im Interview mit faz-net vom 25.10.2020.
„Der Impfstoff muss ein öffentliches Gut werden. Er kann kein Geheimnis in Privatbesitz sein, von dem nur eine kleine Anzahl von Ländern profitiert. Sobald der Impfstoff vorliegt, muss es klare Kriterien geben, wie die Massenproduktion organisiert wird. Es reicht nicht, dass es den Impfstoff gibt. Er muss zugleich weltweit verfügbar und erschwinglich sein, auch für arme Länder. Wir brauchen den Impfstoff für alle.“
Hoffentlich bekommen wir einen in absehbarer Zeit.
Weitere Nobelpreisträger
Am 9.9.2019 hatten wir hier im Blog auf die Bedeutung der Crispr-Gentechnologie hingewiesen. Nun wurden die beiden Erfinderinnen, die Französin Emanuelle Charpentier und die US-Amerikanerin Jennifer Doudna, prompt mit dem Nobelpreis für Chemie 2020 ausgezeichnet. Mit ihrer Genome-Editing-Methode Crispr/Cas9 kann das Genom von Pflanzen, Tieren und Menschen gezielt verändert werden (siehe hierzu auch BR Wissen vom 7.10.2020).
Und hier geht es weiter zum Netz
#PreppoKompakt
Denkanstösse sind nützlich. Amartya Sen gibt genügend Anlass und Raum dafür, sich über eine gerechte Verteilung Gedanken zu machen. Und er ermuntert dazu, gegensätzliche Meinungen auszutauschen. Folgen wir ihm einfach.
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