Spitz-findig-keit #209

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Spitz oder Spitze sind in aller Regel pointierte Aussagen zum Zeitgeschehen. Dies kann, muss aber nicht die Politik betreffen. Es kann auf die Gegenwart oder auch auf die Vergangenheit gemünzt sein. Spitz ist eine Aussage dann, wenn sie sticht, der betreffenden Person oder Personengruppe wehtut, spitze, wenn sie ausgezeichnet formuliert ist und im Idealfall zudem die Wahrheit abbildet. Fi/ündig, wenn der beschriebene Umstand nicht ganz offensichtlich, also erst zu ergründen ist. Und -keit lässt auf unterschiedliche menschliche Eigenheiten/-schaften schließen, wie beispielsweise Eitelkeit, Heiterkeit, Überheblichkeit oder, oder. Alles zusammengenommen eine echte Spitzfindigkeit. In unserer Kolumne ‚Spitz-findig-keit‘ zitieren wir in lockerer Folge jeweils zwei oder drei Aussagen und verschonen dabei auch nicht klassische Denkerinnen und Denker.

Um Denkanstöße zu geben, die Freude am Formulieren zu wecken – nichtzuletzt auch um dem Humor in unserer doch etwas trostloseren Zeit wieder mehr Geltung zu verschaffen. Erhöht das Wohlbefinden. Packen wir es an! Ich sage nicht, wir schaffen das. Aber wir probieren es auf jeden Fall!

Spitzfindigkeiten zuhauf!

Vorbemerkung

Es gibt nach Immanuel Kant auch eine falsche Spitzfindigkeit, die wir uns hier allerdings nicht zu eigen machen wollen. Wer dem dennoch nachgehen möchte – Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren – kann dies hier gerne tun.

Heute beklagen wir dafür lieber, wie schon zu Zeiten der Römer und den Jahrhunderten dazwischen, den Sittenverfall im Kleinen und im Großen. Und erfreuen uns an der Literatur.

1. Spitz-findig-keit

O tempora, o mores! Oh was für Zeiten, oh was für Sitten, heute genau vor 120 Jahren von dem Schriftsteller, Theaterkritiker sowie Hunde- und Katzenliebhaber Paul Léautaud – wir sind ihm schon in der #116 begegnet – in Fontenay-aux-Roses festgehalten und im „Buch der Tagebücher“ wiedergegeben (S. 132 und S. 640 zur Person):

„Heute abend im Mercure erfahren, daß Hugues Rebell gestern oder vorgestern verstorben ist … Auch ein sonderbarer Mensch, so etwas wie ein Sadist, grenzenlos verdorben … So hatte er eine Katze, die er zu masturbieren begann. Mit dem Erfolg, daß sie schließlich nicht mehr von ihm wich. Das ging eine Weile gut, bis es Rebell zu lästig wurde. Die Katze war aber darum nicht minder bedürftig. Daraufhin mußte der Kammerdiener sich ihrer annehmen. Wenn sie sich verliebt zeigte, rief Rebell den Kammerdiener herbei und sagte zu ihm: ‚Jean, masturbieren Sie die Katze‘, genauso, als hätte er gesagt: ‚Jean, reichen Sie mir meinen Hut.‘ Und mit einem Bleistift, der zu diesem Zweck sorgfältig gespitzt worden war, waltete der Bedienstete seines Amtes.“

2. Spitz-findig-keit

Der andere Blick am (Dienstag)Morgen. Marc Felix Serrao, Chefredakteur der NZZ Deutschland, erinnert daran, dass vor fünf Jahren, am 11.3.2020, die Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Verbreitung von Sars-CoV-2 als Pandemie eingestuft hat und anschliessend in vielen Ländern autoritäre Freiheitseinschränkungen durchgesetzt wurden. Die Pandemie ist vorüber, aber der „… Hang zur Herdenmeinung und zum übergriffigen Staat ist noch da. Er zeigt sich in der Bereitschaft, Andersdenkende sprachlich auszugrenzen (vom ‚Querdenker‘ über den ‚Putin-Versteher‘ zum ‚Nazi‘), oder im politischen Willen, Kritik an herrschenden Überzeugungen als ‚Desinformation‘ zu bekämpfen.“

Er fordert auf, daraus ein paar Lehren zu ziehen:

– „Journalismus sollte dazu da sein, die Arbeit von Regierungen kritisch zu begleiten. Er sollte nicht dazu da sein, unbotmässige Bürger im Sinne der Exekutive verächtlich zu machen.

– Es gibt nicht ‚die‘ eine Wissenschaft, und das Gerede von wissenschaftlichen ‚Teams‘ ist antiintellektuell. Es gibt von Fachleuten erarbeitetes Wissen, das vorläufig ist, laufend überprüft werden muss und falsifiziert werden kann.

– Wer vor ‚Hass‘ und ‚Hetze‘ warnt, will in Wahrheit oft nur bestimmte Meinungen aus dem Diskurs ausschliessen.

– Es gibt ‚Desinformation‘, die von autoritären Staaten und deren Helfern in Umlauf gebracht wird, um freie Gesellschaften zu destabilisieren. Das ist ein Problem. Aber noch problematischer ist die Ausweitung des Begriffs, um Menschen mundtot zu machen, die einfach nur dominante Narrative infrage stellen.“

3. Spitz-findig-keit

In der Vergangenheit herumstöbern bringt so einiges ans Licht. Von einem guten Freund erfuhr ich dieser Tage, dass der Herr Conzelmann, den ich regelmäßig im Hallenbad treffe, der Sohn von Wilhelm Conzelmann ist, dem von mir sehr geschätzten Deutschlehrer aus den Zeiten des Wirtschaftsgymnasiums. Dieser belesene, einfühlsame, erstklassige Pädagoge hat es verstanden nicht nur mir, ja mehreren Schülergenerationen die Liebe zur Literatur zu vermitteln. In meinem Bücherregal fand sich dann auch das stark (ab)genutzte Reclam-Büchlein „Nathan der Weise“ mit vielerlei Unterstreichungen, Anmerkungen und folgendem Eintrag:

Neben Zopf – alias Hajo – war in meiner Klasse auch Kamerad Mick, Spross des alteingesessenen, angesehenen Sigmaringer Hofbuchhändlers, der immer wußte, welche Bücher Mann/Frau gelesen haben sollte. Den Zugang zur klassischen Musik habe ich übrigens unserem Klassenlehrer an der Realschule, Karl-Heinz Döbereiner, zu verdanken. Während des zweiwöchigen Schullandheimaufenthalts im Schloß Rechenberg in der 6. Klasse brachte er uns gekonnt mit der Sinfonie Nr. 9 „Aus der Neuen Welt“ von Antonín Dvořák in Berührung. Anmerkung: Während Herr Döbereiner hoffentlich am 30. Juni seinen 92. Geburtstag feiern kann, war für unseren Freund Mick, der gleichen Tags 18 Jahre später geboren wurde, das Leben schon im März 2017 zu Ende.

Und hier geht es zügig weiter.

#PreppoKompakt

Der dokumentierte Rausch, das ist die gute Nachricht, war übrigens mein erster und letzter. Insofern auch pädagogisch äußerst wertvoll. Die Liebe zur Literatur hingegen dauert bis heute an und wird beispielsweise in einem kleinen Literaturzirkel ausgelebt, der am vergangenen Dienstag mit „Die letzte Patientin“ von Ulrike Edschmid sein 151. Buch besprochen hat.

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