Spitz oder Spitze sind in aller Regel pointierte Aussagen zum Zeitgeschehen. Dies kann, muss aber nicht die Politik betreffen. Es kann auf die Gegenwart oder auch auf die Vergangenheit gemünzt sein. Spitz ist eine Aussage dann, wenn sie sticht, der betreffenden Person oder Personengruppe wehtut, spitze, wenn sie ausgezeichnet formuliert ist und im Idealfall zudem die Wahrheit abbildet. Fi/ündig, wenn der beschriebene Umstand nicht ganz offensichtlich, also erst zu ergründen ist. Und -keit lässt auf unterschiedliche menschliche Eigenheiten/-schaften schließen, wie beispielsweise Eitelkeit, Heiterkeit, Überheblichkeit oder, oder. Alles zusammengenommen eine echte Spitzfindigkeit. In unserer Kolumne ‚Spitz-findig-keit‘ zitieren wir in lockerer Folge jeweils zwei oder drei Aussagen und verschonen dabei auch nicht klassische Denkerinnen und Denker.
Um Denkanstösse zu geben, die Freude am Formulieren zu wecken – nichtzuletzt auch um dem Humor in unserer doch etwas trostloseren Zeit wieder mehr Geltung zu verschaffen. Erhöht das Wohlbefinden. Packen wir es an! Ich sage nicht, wir schaffen das. Aber wir probieren es auf jeden Fall!
Vorbemerkung
Es gibt nach Immanuel Kant auch eine falsche Spitzfindigkeit, die wir uns hier allerdings nicht zu eigen machen wollen. Wer dem dennoch nachgehen möchte – Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren – kann dies hier gerne tun.
Heute wollen wir gemeinsam bilanzieren, was bei den Olympischen Spielen 2020/2021 in Tokio herausgekommen ist und was 20 Jahre internationale Präsenz in Afghanistan bewirkt haben – sowie dem Zufall mit der Zahl 22 „huldigen“.
1. Spitz-findig-keit
Die Gedanken zum Medaillienspiegel. Mit 10 Gold-, 11 Silber- und 16 Bronzemedaillen sind für die deutschen Sportlerinnen und Sportler die Olympischen Spiele im August zu Ende gegangen. Mit dem 9. Platz, einem historisch schlechtem Ergebnis, zugleich der schlechtesten Bilanz bei Sommerspielen seit der Wiedervereinigung 1990. Sah es 2016 in Rio de Janeiro mit dem 5. Platz und 42 Medaillen (17/10/15) noch besser aus, brachten die Olympioniken aus Tokio nur 37 Medaillen mit nach Hause.
Konnten im Rad- und Reitsport, der Leichtathletik, im Kanurennsport und -slalom, beim Ringen, beim Schwimmen und beim Tennis goldene Erfolge gefeiert werden, blieben Medaillen in den Mannschaftsportarten wie Hockey, Handball, Volleyball und Fußball – erstmals seit 1996 – gänzlich aus. Wie sehr man bei der Vorgabe goldener Ziele daneben liegen kann, erzählt die Süddeutsche Zeitung am 4.8.2021 am Beispiel unserer Handballer. Die letzte Hoffnung auf eine Medaille endete dann mit dem 4:5 der Deutschen Hockey Männer gegen Indien, wie RP Online tags darauf festhält.
Zu den Gründen des Scheiterns
Bernhard Peters, ehemaliger Trainer der Hockey Nationalmannschaft und Nachwuchsexperte, äußert sich im Interview mit der Sportschau am 5.8.2021 zu den Gründen für das miserable Abschneiden in den Mannschaftssportarten: „Es gibt keine eindimensionale Erklärung. Generell tun wir uns mit der Entwicklung im Hochleistungsbereich schwer, weil die Stufen darunter, der Kinder-, Aufbau- und Leistungsbereich, nicht systematisch ausgebildet werden. Die natürliche Umsetzung des freien Spielens ist für die Kinder nicht mehr gegeben. Da passiert in anderen Ländern deutlich mehr. Vielleicht schnappt auch die große Volksbewegung Fußball hier zu viele Bewegungstalente für die anderen Spielsportarten weg. Der Fußball wiederum macht aus diesem Zulauf zu wenig, wie die letzten Jahre gezeigt haben. Hier fehlt es seit fast zehn Jahren an der richtigen Entwicklung.“ Das heißt, bei den Kindern und Jugendlichen anfangen – leicht nachvollziehbar.
Unter dem Strich in Tokio eine Bilanz gemeinsamen Scheiterns. „Dabeisein ist wichtiger als siegen“, eine Haltung/Einstellung die wir Deutsche von den charakterstarken Japanern lernen können – die im eigenen Land zudem nicht gerade selten gesiegt haben.
2. Spitz-findig-keit
Bilanz ziehen heißt es momentan auch für alle, die am knapp zwei Jahrzehnte langen Einsatz in Afghanistan beteiligt waren. Und dafür nicht nur mit dem Leben von Menschen und deren Gesundheit, sondern auch mit immensen Geldsummen bezahlen mußten.
Zehn Tage reichen aus
In der NZZ vom 16.8.2021 (hinter Schranke) hält Andreas Babst fest, dass die USA nach dem 11. September 2001 zusammen mit den NATO-Partnern in den Krieg gegen den Terror zogen und resümiert zur Lage heute: „Zehn Tage dauerte es nur, und alles zerfiel. Am 6. August hatten die Taliban Zaranj erobert, die erste Provinzhauptstadt war unter ihrer Kontrolle. Zehn Tage später gehört ihnen Kabul. Vielleicht ist auch vorher schon alles zerfallen, im Mai, als die Taliban zu ihrer Offensive ansetzten und ganze Provinzen eroberten. Vielleicht ist es auch schon viel länger vorbei mit der Islamischen Republik Afghanistan, und kaum einer hat es gemerkt.“
Seine Erklärung dafür klingt plausibel: Korruption und Verdrängung hätten diesen Zerfallsprozeß befördert.
Zu viel Entwicklungshilfegelder
„Milliarden Dollar an Entwicklungshilfe sind nach Afghanistan geflossen. … Es gab erfolgreiche Projekte in Afghanistan, Kinder, die erstmals in die Schule konnten. … Aber es gibt auch Schulen, die gebaut wurden und die nie ein Kind besuchte, potemkinsche Dörfer im Nirgendwo.“ Sein NZZ-Kollege Daniel Steinvorth berichtet fünf Tage später, die Europäische Union hätte sich darauf verlassen, dass ihre zivile Aufbauarbeit, die sie sich seit 2002 mehr als vier Milliarden Euro kosten ließ, von anderen militärisch abgesichert würde.
Dies deckt sich mit den Äußerungen von Präsident Joe Biden. Er sagt, den USA sei es niemals um „Nation-Building“, sondern ausschließlich um Terrorbekämpfung gegangen. Insofern stehen allem Anschein nun die USA als „Sieger“ – dort fast 20 Jahre keine größeren islamistischen Terroranschläge – und die EU als Verliererin da. Dabei blieb den Europäern keine andere Wahl, als es den Amerikanern gleichzutun und auch ihre Truppen abzuziehen. Und als die Taliban das Land im Handstreich eroberten konnten sie nur noch zuschauen.
Zu wenig Kontrolle
Zur Entwicklungshilfe, die unkoordiniert gewesen sei, vermerkt Andreas Babst die Aussagen eines lokalen Regierungsberaters: „Alle kamen mit vollen Geldkoffern nach Afghanistan, alle wollten helfen. Fast jedes Projekt wurde finanziert, kaum eines kontrolliert.“ Insofern sei der Westen ein Komplize der Korruption in Afghanistan, weil er immer wieder wegsah. Und die Probleme verdrängte.
Schon 2008 gründeten die USA die Aufsichtsbehörde „Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction“, kurz Sigar, um zu wissen, wohin das Geld der amerikanischen Steuerzahler fliesst. Deren oberster Ermittler, John F. Sopko, sagte im März 2021. „Wie Sigar schon lange berichtet, hat die ausländische Hilfe die afghanische Wirtschaft entstellt und das Korruptionsproblem verschlimmert.“ Und durch die endemische Korruption sei der Aufstand der Taliban befeuert und der afghanische Staat unterminiert worden. Auch würden jedes Jahr – stellte Sopko schon 2013 fest – geschätzt 4,5 Milliarden Dollar Bargeld mit Duldung der Regierung aus Afghanistan hinausgeschafft.
(Die Redakteure der NZZ berichten in kurzen Abständen, sehr sachkundig, steigen auch tief ein: 2001 sei einer der größten Fehler gewesen, nicht eine Regierung inklusive der Taliban gebildet zu haben. Ein Widerspruch fällt allerdings auf. Daniel Steinvorth spricht von der EU mit über 4 Milliarden Euro als wichtigster Geldgeberin Afghanistans. Auf der Sigar-Webseite findet sich eine Angabe von rund 145 Milliarden Dollar, die in Summe seit 2002 nach Afghanistan geflossen sind, davon allein von der US-Administration rund 113 Milliarden Dollar/97 Milliarden Euro).
Zwei Schlußfolgerungen
Zwei simple Schlußfolgerungen kann man aus alldem ziehen: „Weniger ist mehr“ und – falls Wladimir Iljitsch Lenin, der russische kommunistische Politiker, Revolutionär und marxistische Theoretiker, es so gesagt hat, hat er sogar recht – „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser.“
3. Spitz-findig-keit
Zur Spitz-findig-keit #22 am 22.8.2021 paßt wunderbar der Tagebucheintrag des Forschungsreisenden und Universalgelehrten Alexander von Humboldt (1769-1859) vom 22.8.1802 aus Chamaya in Peru. (Wiederum zu finden im von Rainer Wieland herausgegebenen Buch “Stand spät auf, legte mich aber dann wieder hin”* – Durch das Jahr mit dem Buch der Tagebücher, Piper-Verlag, München 2020, S. 396). Vor exakt 219 Jahren hielt Alexander von Humboldt als seine dortigen Eindrücke fest:
„Das kleine Dorf Chamaya liegt 1/8 Meile vom linken Ufer des Rio Chamaya entfernt und 1 3/4 Meilen oberhalb seiner Mündung in den Rio Marañon. Es ist fast verfallen und hat nicht mehr als 3 bis 4 Häuser. Die Einwohner hatten alle die Syphilis und die Krankheit griff bei anhaltendem Geschlechtsverkehr in einem sehr heißen Klima so um sich, daß der größte Teil starb. Die anderen flohen vor einem Jahr an einen Ort, den sie für ungesund erklären. Auf diese Weise klagt der Mensch die Natur an, wenn er die Krankheit seinen eigenen Lastern verdankt. So ist das fast in allen tropischen Ländern. Die Europäer bringen den Keim der Syphilis, verdorbene Körpersäfte nach Amerika. Sie leben dort noch unordentlicher als zu Hause und dann sagen sie, daß es das Klima ist, das sie tötet.“
Und hier geht es weiter mit der Warnung vor Telefonbetrügereien.
#PreppoKompakt
Japan, Afghanistan und Peru – eine halbe Weltreise nur um spitzfindig zu sein. Alexander von Humboldt dabei ein echtes Vorbild. Und anschließend fühlt man sich universalgeleert.
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Eine Antwort
Der Medaillenspiegel in Tokio (2020) – gleichfalls ein Spiegel für die vermeintliche Leistungsfähigkeit und Wille der Deutschen ( Jugend) im Jahr 2021; Überrundet sogar von den kleinen Niederlanden, mit bester Aussicht nach unten, wo noch viel Platz und Luft für weitere Debakel zu sein scheint. Nächster Halt für neue peinliche Leistungen der höchstleistenden Abschalternation: Qatar 2022……
Parallel Afghanistan, kurz überflüssig kommentiert: Die heftigsten Kritiker dieses Einsatzes haben final recht bekommen; die Mehrheit der Menschen in Europa fragte sich seit 20 Jahren was wir dort machen und insbesondere wie wir dort mal wieder rauskommen. Jetzt wissen wir es endlich, noch viel schlimmer wie vermutet.