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Spitz oder Spitze sind in aller Regel pointierte Aussagen zum Zeitgeschehen. Dies kann, muss aber nicht die Politik betreffen. Es kann auf die Gegenwart oder auch auf die Vergangenheit gemünzt sein. Spitz ist eine Aussage dann, wenn sie sticht, der betreffenden Person oder Personengruppe wehtut, spitze, wenn sie ausgezeichnet formuliert ist und im Idealfall zudem die Wahrheit abbildet. Fi/ündig, wenn der beschriebene Umstand nicht ganz offensichtlich, also erst zu ergründen ist. Und -keit lässt auf unterschiedliche menschliche Eigenheiten/-schaften schließen, wie beispielsweise Eitelkeit, Heiterkeit, Überheblichkeit oder, oder. Alles zusammengenommen eine echte Spitzfindigkeit. In unserer Kolumne ‚Spitz-findig-keit‘ zitieren wir in lockerer Folge jeweils zwei oder drei Aussagen und verschonen dabei auch nicht klassische Denkerinnen und Denker.
Um Denkanstöße zu geben, die Freude am Formulieren zu wecken – nichtzuletzt auch um dem Humor in unserer doch etwas trostloseren Zeit wieder mehr Geltung zu verschaffen. Erhöht das Wohlbefinden. Packen wir es an! Ich sage nicht, wir schaffen das. Aber wir probieren es auf jeden Fall!
Vorbemerkung
Es gibt nach Immanuel Kant auch eine falsche Spitzfindigkeit, die wir uns hier allerdings nicht zu eigen machen wollen. Wer dem dennoch nachgehen möchte – Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren – kann dies hier gerne tun.
Heute, am 1. Mai 2022, lohnt sich hingegen ganz besonders der Blick ins Buch der Tagebücher, das uns ja schon seit geraumer Zeit begleitet – siehe nur hier -, Lidia sei Dank. Er beschert uns kräftige Ortswechsel und Zeitsprünge (Zürich 1848, Leningrad 1965, Wilflingen 1983) mit interessanten Persönlichkeiten, die diesen Tag in ihren Aufzeichnungen festgehalten haben. Dabei wurde der „Tag der Arbeit“ – auch Internationaler Kampftag der Arbeiterklasse genannt – zum ersten Mal am 1. Mai 1890 mit Massenstreiks und -demonstrationen in der ganzen Welt begangen (zur Vorgeschichte und Gegenwart siehe Wikipedia). Übrigens, auch wenn der 1. Mai auf einen Sonntag fällt, es wird demonstriert.
1. Spitz-findig-keit
1848 Gottfried Keller, Zürich – (19.7.1819 – 15.7.1890): Schweizer Dichter – „Der grüne Heinrich“, „Kleider machen Leute“ – und Politiker. Im Oktober begann er in Heidelberg ein Studium der Geschichte und der Staatswissenschaften, zog von dort nach zwei Jahren weiter nach Berlin, wo er sich zum Theaterschriftsteller ausbilden ließ. Nach sieben Jahren kehrte er 1855 als Schriftsteller in die Schweiz zurück und wurde 1861 zum Ersten Staatsschreiber des Kantons Zürich berufen, ein Amt, das er 15 Jahre lang ausübte.
„Ich ging in die Stadt, wo Jahrmarkt war. Es war viel Volk hereingekommen und trieb sich emsig herum, doch war sein Verkehr mehr scheinbar; denn alles klagte über den großen Geldmangel und die schlimme Zeit … Die einzige Merkwürdigkeit des Marktes, welche einigen Zuspruch erhielt, war ein Rhinozeros. Das Schicksal dieser antediluvianischen Bestie ist eng mit dem Fall des Königtums in Frankreich verknüpft, indem sie für den Jardin des plantes in Paris bestellt, aber von der provisorischen Regierung wieder abbestellt wurde, weil man dort jetzt das Geld sonst brauche. Heimatlos irrt das altmodische Tier nun in der Schweiz umher, doch ist es nicht brotlos, da seine Seltsamkeit und sein Horn auf der Nase ihm ein hinlängliches Auskommen sichern. Wohl jedem, der in diesen Zeiten etwas Rechtes gelernt hat!“ (Buch der Tagebücher, S. 214).
Ergänzung
Was das Buch der Tagebücher hier auslässt: Neben dem vorsintflutlichen Rhino gab es auf dem Platz viele junge „… Soldaten, welche in ihren neuen Uniformen der Not und der Bestürzung des Tages vergaßen und singend umherzogen.“ So zu lesen im „Das Tagebuch und das Traumbuch“, wiedergegeben im Projekt Gutenberg, ebenso Kellers Haltung zum Krieg.
„Am meisten aber quält mich das ewige Kriegsgeschrei deutscher Essigsieder gegen Frankreich. Kaum war der erste Freudenschrei, der über den Rhein kam, verhallt, kaum war die ungeheure Lawine, welche er in Deutschland erweckte, im Schuß, so hieß es zum Danke wie aus einem Mund: Rüstet euch gegen den Erbfeind! … Und wenn sie auch endlich kämen, so wäre die Ungerechtigkeit ihrer Sache der beste Schutz gegen sie, denn das Volk, welches jetzt zuerst den Krieg ohne goldschwere Ursache über seine Grenzen hinauswälzt, wird den Fluch und das Unglück zu seinem Erbe haben.“
Die rund dreiundzwanzig Jahre später erfolgte Reichsgründung, am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Versailles, hielt dies nicht auf. Aber mittel- und langfristig – mit den deutschen Niederlagen in den beiden Weltkriegen 1918 und 1945 – behielt Gottfried Keller recht.
2. Spitz-findig-keit
1965 Rudi Dutschke, Leningrad – (7.3.1940 – 24.12.1979): in Luckenwalde geborener marxistischer Soziologe und politischer Aktivist. Verbrachte seine Jugendjahre in der DDR, ging drei Tage vor dem Bau der Mauer nach West-Berlin. Er gilt als Wortführer der westdeutschen Studentenbewegung der 1960er Jahre. Im April 1965 fuhr er in die Sowjetunion, wo er das Töten der Opfer der Oktoberrevolution und die auf bloße Produktivitäts- und Leistungssteigerung ausgerichtete Industriepolitik der Kommunistischen Partei kritisierte. 1968 wurde er in Berlin Opfer eines Attentats und verstarb 11 Jahre danach in Dänemark an den Spätfolgen.
„Wie der 1. Mai in Moskau oder Leningrad war? So, wie ich ihn von Luckenwalde her kannte. In Rußland erinnerte ich mich oft des Alexander-Blok-Satzes von 1920: ‚Diejenigen, die in einer unerfüllten Zeit geboren sind, erinnern sich nicht ihrer Vergangenheit. Wir, Kinder Rußlands in gefahrenvollen Zeiten, vergessen nichts.‘ Wie sich eine Lage und ihre Interpretation ändern können.“ (Buch der Tagebücher, S. 215).
Alexander Blok war ein Dichter der russischen Moderne aus St. Petersburg. Er verstarb 1921 in seinem 41. Lebensjahr ganz jämmerlich an Unterernährung.
3. Spitz-findig-keit
1983 Ernst Jünger, Wilflingen – (29.3.1895 – 17.2.1998): Teilnehmer am Ersten Weltkrieg, Verfasser von „In Stahlgewittern“, zum Zeitpunkt seines Tagebucheintrags 88 Jahre alt und wohnhaft im Forsthaus der Schenken von Stauffenberg. Am 20. Juli 1993 – dem 49. Jahrestag des Hitler-Attentats durch Claus Schenk Graf von Stauffenberg – erhielt er dort Besuch vom französischen Staatspräsidenten François Mitterrand und Bundeskanzler Helmut Kohl. Das Jünger-Haus ist öffentlich zugänglich und auch wegen seiner umfänglichen Käfersammlung besuchenswert.
„Zum Friedhof, wie an jedem ersten Mai. Der Tag ist zur Parteisache geworden – besser feierte man ihn allein oder mit seinem Mädchen im Wald. Immerhin wird noch der Maibaum gesetzt. Auf dem Rückweg eine Überraschung: ein Storch in dem Nest, das Friedrich von Stauffenberg kurz vor seinem Tode auf den gotischen Kirchturm setzen ließ. Bei näherem Hinblick kamen mir Zeifel, bis ich erkannte, daß mich einer der mehr oder minder gelungenen Scherze getäuscht hatte, die hierzulande in der Mainacht verübt werden. Der Storch war aus Blech.“ (Buch der Tagebücher, S. 215).
Sprung in die Gegenwart
Weil wir gerade in Baden-Württemberg sind, springen wir mit SWR Aktuell vom 27.4.2022 in die Gegenwart: In Nagold, Kreis Calw, sollte der 1. Mai ein verkaufsoffener Sonntag werden. Eine Klage der Gewerkschaft ver.di beim Verwaltungsgerichtshof (VGH) in Mannheim hat dies verhindert. Ver.di hatte zunächst von Instinktlosigkeit gesprochen. Oberbürgermeister Jürgen Großmann (CDU) gab vor, damit Arbeitsplätze im Einzelhandel sichern zu wollen und entschuldigte sich damit, es sei keine böse Absicht gewesen. Die Gewerkschaft erklärte sich im Gegenzug zu einem Gespräch mit der Stadt über zukünftige verkaufsoffene Sonntage bereit.
Und hier geht es weiter mit spitzen Bemerkungen.
#PreppoKompakt
Was gibt es nicht alles für Verhaltensweisen, wenn im politischen Geschäft Fehler passiert sind. Aussitzen, weglächeln, verdrängen, leugnen oder die Schuld weiterreichen. Da ist es schon fast wohltuend, wenn jemand sagt, es war nicht böse gemeint. Vielleicht ein bißchen naiv, vor allem wenn sich das häuft, aber immerhin, der Einstieg in eine althergebrachte Verantwortungskultur.