Was dem Künstler seine Muse ist dem aufgeklärten Wissenschaftler beziehungsweise aufgeschlossenen Politiker die Beratung/Expertise. Das schließt keineswegs aus, dass – ob Frau oder Mann – Musen und nicht selten Zufälle zur Fortentwicklung von Wissenschaft oder Politik beitragen. Entscheidend aber ist der Wille zur Vernunft.
Zur Veranschaulichung werden drei Beispiele referiert. Die zwei aktuellen können – so man möchte – für eigene Überlegungen und Gedankenspiele zum Politikgeschehen herhalten, vor allem auch über den Tag hinaus. Am klassischen Beispiel zu Beginn kann man ganz einfach seine Freude an den Farben und das Interesse an der Kunstgeschichte ausleben. Und zudem realisieren, wieviel Veränderung – individuell, aber auch gesellschaftlich – doch möglich ist.
Muse und Künstler
Emilie & Gustav, klassisch
ARTE berichtet in einer ansprechenden Reihe über Zweierbeziehungen, die sich im künstlerischen Sinne – manches Mal auch darüber hinaus – als äußerst fruchtbar erwiesen haben. Ein 27-minütiger Beitrag ist Gustav Klimt (1862 – 1918) und Emilie Flöge (1874 – 1952) gewidmet (hier bis zum 11.11.2020 verfügbar). Die Besonderheit an dieser Beziehung ist, dass beide für ihr Metier – er als Maler, sie als Modeschöpferin – trotz des Altersunterschieds im Laufe der Zeit immer stärker davon profitiert haben.
„Die beiden Künstler brechen in Wien mit sämtlichen Konventionen. Ihre Beziehung ist stärker als jede Ehe, als Seelenverwandte erforschen sie eine neue Form der Liebe. Emilie ist eine emanzipierte Frau … und tut alles, um ihre Leidenschaft, die Mode, zu ihrer Lebensaufgabe zu machen.“ Gustav gründet mit einer Gruppe von Künstlern 1897 die Wiener Secession, Emilie zusammen mit ihren zwei Schwestern 1904 den Modesalon ‚Schwestern Flöge‘. „Sie spezialisieren sich auf weit geschnittene Kleider – sogenannte Reformkleider – mit Volants und wilden, von Gustav Klimt entworfenen Mustern. Ihre Liebe bringt schließlich Klimts berühmtestes Bild hervor: Es ist ‚Der Kuss‘, auf dem er sich selbst und Emilie als Liebespaar voller Leidenschaft und Hingabe darstellt.“
Eine faszinierende Geschichte mit faszinierenden Bildern, überaus sehenswert, regelrecht goldig. Filmisch von Stéphanie Colaux auf ARTE abwechselungsreich und witzig in Szene gesetzt.
Selma (S) & Wolfgang (W), modern
Wolfgang Herles, Jahrgang 1950, unterscheidet sich von Klimt dadurch, dass er in der Gegenwart lebt und keine Bilder malt. Aber als Journalist und Schriftsteller ist er ein Künstler der deutschen Sprache und ein Versteher unserer politischen Landschaft. Dies spielt er in seinem neuesten Beitrag auf Tichys Einblick vom 19.9.2020 voll aus: „Du wirst schon sehen – Szene einer Ehe“.
Mit Selma – wohl ein Aliasname, da seine Ehefrau Barbara heißt – kommt es zu folgendem, stark verkürzt wiedergegebenen Dialog:
(W) Ich halte es in diesem Scheißland nicht mehr aus. Man könnte auch die Wand anbrüllen. … Ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein unfreundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.
(S) Kommt mir bekannt vor. Seit wann bedienst du dich bei der? (W) Ich bediene mich nicht bei der. Ich bin bedient. (S) Gib es auf! Wir müssen Merkel ertragen wie die Amerikaner Trump. … (W) Trump kann höchstens einmal wiedergewählt werden. … (S) Sie geht freiwillig. (W) Muss ich ihr dafür auch noch dankbar sein? (S) Die meisten deiner Mitbürgerinnen und Mitbürger sind es. …
(S) Du bist aus Prinzip gegen alles, was allgemein akzeptiert wird. Macht es dir Spaß, dauernd anzuecken? (W) Sage ich doch. Ich muss hier raus. (S) Wohin denn? (W) Zum Beispiel nach Österreich. (S) Wien ist Risikogebiet. … Die Infektionszahlen steigen nun einmal deutlich an. (W) Aber entscheidend ist allein die Zahl der schwer Erkrankten. Das sagt der Virologe Streeck, dem aber kaum jemand zuhört, während des Virologen Drostens Panikmache in Stein gemeißelt wird. Herbst und Winter werden grausam. Die Deutschen verbieten sich selbst das Leben. Die Pleitewelle wird wie ein Tsunami über sie schlagen. Dazu kommen die Schuldenkrise, die Klimakrise. Dann noch die Zuwanderung. Das sind schon keine Notsituationen mehr, es ist ein einziges Desaster.
(S) Übertreib mal nicht! Zugegeben, es sind Herausforderungen. Aber wir schaffen das. Wir haben immer alles geschafft. Wir retten Menschenleben, das Klima und Europa dazu. Deutschland geht voran. Wer, wenn nicht wir? (W) Genau! Den Deutschen sind alle Krisen willkommen. Das ist ihre wahre Willkommenskultur. Die einzige Kultur, die sie noch haben. In der Krise erst kommen sie ganz zu sich. Die richtige Kultur machen sie gerade mit Hingabe kaputt. … Die Autoindustrie wird systematisch gekillt. An vorderster Front: Merkel-Freundin von der Leyen. Europa verschärft die Klimaauflagen schon wieder radikal. (S) Und entfacht eine ungeheuere wirtschaftliche Dynamik. (W) Wer kümmert sich um die Arbeitslosen? (S) Was zählen ein paar Existenzen, wenn es ums Klima geht. (W) Was zählen ein paar Coronatote, wenn es ums Leben geht. Jetzt schreie ich doch noch die Wand an. Auch wenn es nichts nützt.
Wissenschaftler mit posthumem Beirat wider die Eselei
Der 1952 in Kaiserslautern geborene Wolfgang Sofsky ist ein gutes Beispiel dafür, dass der Prophet im eigenen Land „nichts“, oder sagen wir besser „weniger“ gilt. Jenseits der Grenze in der Schweiz sieht das anders aus. Da kommt der Soziologe mit seiner vehementen Kritik an der Dummheit und dem ausgeprägten Willen zur Vernunft ausgiebig in der NZZ vom 19.9.2020 zu Wort. Dabei ist er nicht allein, nein er hat in dem von ihm im März 2016 gegründeten Holbach-Institut einen, wenn auch nur posthumen Beirat erster Güte an seiner Seite. Er ist offensichtlich ein Mann des wachen Verstands, der eine klare Analyse mit einer ebensolchen Sprache und bissigem Humor zu verbinden versteht.
Aus seinem Essay/seiner „Eselei“ sechs zentrale Aussagen:
1.
„Die kürzeste Kritik der Dummheit bietet ein Capricho (ein Blatt mit Aquatinta und Radiertechnik – JG) Francisco de Goyas. Ein grosser Esel unterrichtet kleine Esel. ‚Ob der Schüler wohl mehr wissen wird?‘, lautet die Legende. Wo Esel Esel unterrichten, kommt nur Eselei heraus, sei es in unteren, mittleren oder höheren Schulen. … Eselei ist zuerst eine Schwäche des Denkens und des Redens. …
2.
Man verwechselt den grammatischen Genus mit dem biologischen Sexus und vermischt alles im ’sozialen Geschlecht‘. Dabei hat weder der Hocker noch der Seufzer einen Penis. Man glaubt, mit der Beseitigung von Wörtern, Symbolen oder Statuen liessen sich unerwünschte gesellschaftliche Unterschiede einebnen. Man hält natürliche Katastrophen für göttliche oder menschliche Schuld und verfolgt in grossen Krisen die Aussenseiter, die Fremden und die Nachbarn. …
3.
Die nüchterne, oft unspektakuläre Erkenntnis der Tatsachen ist dem Esel zuwider. Informationen nimmt er nur auf, soweit sie ihm zupass sind. Sein Urteil steht von vornherein fest. Erfahrung ersetzt er durch Wünschen, Hoffen, Glauben, Empören. Doch schwindet mit dem Defekt des Realitätssinns auch das Gefühl für das Mögliche und Machbare.
4.
In Gesellschaft fühlen sich die Esel besonders wohl. Je grösser ihre Zahl, desto überzeugender erscheint die Eselei. Je mehr Gläubige, desto glaubwürdiger der Glaube. … Über die Wahrheit entscheidet die grosse Zahl, auch wenn nichts, aber auch gar nichts den Tatsachen entspricht. In der Konsensgemeinschaft der Rechtgläubigen gilt es als Straftat, anderer Meinung zu sein.
5.
Das Medium sozialer Dummheit ist das Gerede und das Geschreibsel. Gerede … ergibt sich aus dem ungeprüften Nach- und Weiterreden des Immergleichen. Gehörtes wird einfach weitergetragen. … Geschreibsel entsteht, wenn andere weiterschreiben, was jemand vorgeschrieben hat. Es speist sich aus dem Angelesenen. Bodenlos schwebt so das Gerede über der Welt. … Es erzeugt ein Klima einfältigen Einverständnisses, dem nichts mehr verschlossen scheint und an dem jeder teilhaben zu können glaubt.
6.
In der Politik hat die Dummheit einen angestammten Platz. … Ob aus Starrsinn, Überheblichkeit oder dumpfer Gewöhnung, keineswegs ist das Feld der Macht eine Oase der Rationalität. Denn die Torheit der Regierenden stützt sich auf die Einfalt der Regierten. … Ohne Arglosigkeit keine Wählerstimme, kein Glaube ans ‚Gemeinwohl‘, an die Güte des Herrn. Doch in Fragen der Macht ist Vertrauen pure Dummheit.“
Ein gewaltiger Rundumschlag von Wolfgang Sofsky – mit solch einem Beirat machbar!
Was bedeutet das für die aktuelle Politik
Im Grunde genommen eine niederschmetternde Analyse, verabreicht in zwei sehr starken Dosen. Und dennoch gibt es Anlass, vorsichtig optimistisch zu sein. „Und sie bewegt sich doch“. Diese Feststellung in Bertolt Brechts Galileo Galilei – bezogen auf die Erde in ihrer Umlaufbahn um die Sonne -, lässt sich ansatzweise auf in der aktuellen Diskussion festgefahrene Themen, wie Klimaschutz und Schutz vor dem Corona Virus, übertragen. Der Wille zur Vernunft ist spür- und wahrnehmbar.
Worauf sich dieser vorsichtige Optimismus gründet
Fakten und Argumente sollen zählen
Es sind kleine, zarte Pflänzchen, die sprießen – und wahrgenommen werden. Wenn sich eine Diskussion aufbaut und beide Seiten aufeinander zubewegen, ist das für die Klimadebatte ein echter Fortschritt. Allein dass wieder über Fakten und Argumente gestritten wird, wie es in der Wissenschaft sein soll (hier am Ende unseres Blogbeitrags thematisiert).
Brückenbauer für Aufklärung – Wille zur Vernunft
Zu den Brückenbauern gehört auch Andrew McAfee mit seinem neuen, Ende August in Deutsch erschienenen Buch* „Mehr aus weniger: Die überraschende Geschichte, wie wir mit weniger Ressourcen zu mehr Wachstum und Wohlstand gekommen sind – und wie wir jetzt unseren Planeten retten“ (DVA-Verlag, München, 2020, 26 Euro – faz-net vom 30.8.2020 hinter Bezahlschranke mit einer Art Vorabdruck). Der Ökonom von der Sloan School of Management des Massachusetts Institute of Technology (MIT), eine der weltweit führenden Business Schools, ruft nichts weniger als den Anfang einer zweiten Aufklärung aus.
Schon nach Immanuel Kant (1724 – 1804) beschränkt sich die Aufklärung nicht auf eine Epoche, sondern ist ein immer wieder stattfindender Prozess. „Sie ist eine Aufforderung an jeden einzelnen, sich diskursiven Machtverhältnissen nicht unhinterfragt zu fügen, sondern sich immer wieder mündig zu machen, indem man sich mit ihnen befasst.“ So Die Zeit vom 19.9.2013 in der Serie „Einführung in die Philosophie“.
Gemeinsamer Vorstoß
Ein ähnliches Signal liefert die Diskussion bei den – oder besser, zwischen zwei – Grünen, einer Frau und einem Mann. Und zwar darüber, ob im Hinblick auf den Klimawandel, der deutsche Atomausstieg nicht doch verschoben werden sollte, wie die faz-net vom 12.9.2020 zu berichten weiß.
Die Technik-Historikerin Veronika Wendland, geboren 1966, schlagfertig und kämpferisch. „Sie nennt sich grün und links, aber sie hat etwas an sich, das Linke und Grüne kaum ertragen können: Sie will Atomkraft, weil ihrer Meinung nach ohne Atomkraft die Klimawende nicht gelingen kann.“ Der Kerntechniker Rainer Moormann, Jahrgang 1950, nicht weniger kämpferisch, aber eine halbe Generation älter als Wendland, „… einer der Granden der Anti-Atomkraft-Bewegung.“
Beide gemeinsam haben im Juli dazu aufgerufen, den Ausstieg zu verschieben. Die sechs verbliebenen Atomkraftwerke sollen nicht Ende 2022 abgeschaltet werden, sondern bis etwa 2030 weiterlaufen (auf Wikipedia finden sich weitere Informationen zur Person und zum Memorandum vom 16.7.2020).
Man darf gespannt sein, wie das weiter- und vor allem ausgeht. Abgesehen davon, wer von Beiden ist die Muse?
Keine Ausgrenzung mehr
Die Ausgrenzung Andersdenkender endlich beenden, ruft uns in der NZZ vom 11.9.2020 eine besonnene Stimme aus der Schweiz zu.
„Niemand hat auf die Corona-Pandemie eine endgültige Antwort. In dieser Situation der Verunsicherung ist es verführerisch, Andersdenkende als ‚Covidioten‘ und Verschwörungstheoretiker zu diffamieren. Die Politik sollte nicht in diese Falle tappen.“ Nicht schon wieder muss es heißen, nachdem 2015 alle, die angesichts der Massenmigration von einer Million Menschen ein Gefühl der Beklemmung befiel, von der Politik und den Medien in die rechte Ecke gestellt und ausgegrenzt wurden.
Gerade die vielen positiven Reaktionen in den 287 Kommentaren zu diesem Kommentar des Chefredakteurs sind echte Mutmacher. Der Wille zur Vernunft ist nicht zu überhören.
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#PreppoKompakt
Schluss mit der Eselei – überlassen wir dies den putzigen Tieren!
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