Kann man sich auf ein Buch freuen, das man noch gar nicht gesehen hat? Ja, zumindest konnte ich es im Falle von „Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit“, wo es um die größten wissenschaftlichen Streitfragen unserer Tage geht. Vorfreude nicht nur weil die am 7. August 1987 in Heppenheim geborene Autorin sympathisch und authentisch daherkommt – so wahrgenommen in verschiedenen Beiträgen der WDR-Sendung Quarks. Auch weil sie – und ich kann gar nicht mehr sagen, wo dies zu lesen war – davon spricht, dass wir Deutschen … so oder so … seien. Das ‚Wir‘ kommt übrigens in ihrer Sprache ziemlich oft vor, das ‚Sie‘ im Text hingegen gar nicht. Aber auf ihre Art und Weise schafft sie es locker, uns die Wirklichkeit zu verdeutlichen.
Um wen es geht
Dr. Mai Thi Nguyen-Kim, 33 Jahre alt, eine promovierte Chemikerin, hat schon vom Bundespräsidenten das Bundesverdienstkreuz erhalten und ist von der Bundeskanzlerin im Bundestag im Zusammenhang mit dem Corona-Virus zitiert worden, weiß faz-net vom 28.2.2021 (hinter Bezahlschranke) zu berichten. Natürlich auch, dass sie auf Youtube mit dem Wissenschaftsformat maiLab ein Millionenpublikum erreicht und ab dem 1. April – kein Scherz – fürs ZDF arbeiten wird. Die junge Mutter mit vietnamesischen Wurzeln hat in ihrer noch kurzen Karriere laut Wikipedia schon eine Vielzahl von Auszeichnungen erhalten.
Um was es beim Wirklichkeit verdeutlichen geht
„Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit. Wahr, falsch, plausibel? Die größten Streitfragen wissenschaftlich geprüft“*, im Droemer Verlag in München im März 2021 erschienen. Stellen Sie sich bei der Lektüre auf sprachliche Frische, Fangfragen sowie eine Vielzahl sogenannter Boxen und Schaubilder ein. Zudem auf eine dezente rote Farbe, mit der Hervorhebungen in den Überschriften, im Text und in den Abbildungen des – einschließlich der Dankseite, den Anmerkungen und dem Bildnachweis – 368 Seiten umfassenden Buches stattfinden. Auch auf eine feine Haptik und einen ansprechenden Druck. Nicht zuletzt kann es passieren, dass Ihnen ein kleiner Frosch entgegenspringt.
Um Videospiele in Kapitel 2
Um es vorweg zu sagen, die Fangfrage verfängt nicht, denn es besteht kein Zusammenhang vom Konsum gewaltvoller Videos zur Jugendgewalt. Wenn es überhaupt einen solchen Effekt gibt, dann fällt er sehr klein aus. Um einen Zusammenhang herzustellen, bedürfe es eines regelrechten „Cherry pickings“ und verzerrender Interpretationen – was allerdings gang und gäbe sei, so die Autorin. Am Beispiel der „Duschpinkler“ zeigt sie schön auf, wodurch Befragungsergebnisse verfälscht werden.
Sie nimmt uns mit in die Welt der Labor- und Beobachtungsstudien, zeigt deren Vor- und Nachteile auf. Sie erläutert gut nachvollziehbar Sozialisations- und Selektionseffekte und macht uns mit Korrelationen und Kausalitäten vertraut. Wir lernen den Noiseblast-Test und die Brokkoli-Studie kennen und mit der Signifikanzsuche umzugehen. Je größer die Forschungsfreiheit, desto mehr Möglichkeiten – auch wissenschaftlich illegal, auf krumme Art – gibt es dazu.
Nguyen-Kim sympathisiert mit der „… Katharsisthese, der gemäß Menschen mithilfe von Videospielen Aggressionen abbauen könnten, anstatt sie im Alltag auszuleben.“ (S. 84). Sie hält auch fest, dass Gaming/Spielen in der laufenden Corona-Pandemie viele vor Öde und Einsamkeit gerettet hat.
Ganz aktuell zu Impfungen in Kapitel 5
Die Fangfrage lautet hier: „Wo ist dein Impfpass?“ (S. 169). Und schon ist man mittendrin im, auch an Aktualität kaum zu überbietenden Thema. Man lernt, dass der Impfstoff – tote Erreger oder Teile davon – den Krankheitserreger imitiert und im Körper eine Immunantwort provoziert. Das heißt, unser Immunsystem wird aktiviert, springt an und bildet ein Immungedächtnis aus, wobei auftretende Fieber- und Erschöpfungszustände normal sind. Nguyen-Kim erkennt im Grundprinzip der Impfungen „… einen der größten Gamechanger der Menschheitsgeschichte.“ (S. 171). Ohne diese Errungenschaft wäre jedes Jahr – mehr oder weniger – so trist wie das hinter uns liegende 2020.
Wir bekommen die Herdenimmunität erläutert und auch, warum der Impfstoff gegen Covid-19 so schnell da war (jeweils in einer Box anschaulich dargestellt). Wir erfahren, dass in Bezug auf die Nebenwirkungen sehr strenge Maßstäbe angelegt und diese nach ihrer Häufigkeit unterschieden werden. Häufig sind Nebenwirkungen im Falle größer einer in 100, selten in 100 bis 100.000 und sehr selten in 100.000 bis 1.000.000 Fällen, wobei Nebenwirkungen immer sorgfältig beobachtet werden. Zudem besteht ein Restrisiko, weil die seltenen und sehr seltenen Nebenwirkungen erst in Studien nach Zulassung des Impfstoffs – und nicht bereits in den Phasen I bis III mit den klinischen Studien – feststellbar sind.
Die Autorin glaubt fest an die menschliche Vernunft, weshalb sie auch schlußfolgert: „Es gibt keinen rationalen Grund, die Krankheit einer Impfung vorzuziehen.“ (S. 197). Gegen eine Pflicht zur Impfung allerdings sprächen ethische Überlegungen – dies sei auch die Haltung des Deutschen Ethikrats – und man solle die Menschen nicht zu ihrem Glück zwingen. So argumentiert sie auch gegenüber überzeugten Impfgegnern.
Woher unsere Intelligenz rührt in Kapitel 6
Zwei Begriffspaare verfangen sich schnell im Raster der Aufmerksamkeit, nämlich die „unmenschlichen Menschenversuche“ und der „menschenliebende Mensch“. Damit steckt Nguyen-Kim das Terrain ab für die Beschäftigung mit der Frage, was es mit der Erblichkeit von Intelligenz auf sich hat. Sie stellt klar, dass Intelligenz, da viel zu komplex, nicht meßbar ist. In Tests gemessen wird stattdessen ein Intelligenz-Quotient – IQ – mit einer ganz passablen Relibilität/Treffsicherheit und Validität/Richtigkeit.
Bevor die Autorin zu den Basics/Grundlagen der Genetik vordringt, gibt sie als Faustregel aus, dass es kompliziert ist. Und dass man unwissenschaftliche Aussagen schon allein daran erkenne, „… dass sie erstaunlich einfach und straight-forward sind.“ (S. 218). Damit räumt sie später auch elegant mit der Behauptung von Thilo Sarrazin auf, Intelligenz sei zu 70 Prozent erblich, folglich auch die Unterschiede zwischen Menschen verschiedener Kulturen genetisch bedingt. Dies sei „… schlicht und einfach eine Fehlinterpretation von Wissenschaft.“ (S. 230).
Sie lässt uns wissen, dass ein Genom ungefähr 20.500 Gene enthält und von den 3 Milliarden Basenpaaren, 99,9 Prozent von Mensch zu Mensch identisch sind. Die verbleibenden 0,1 Prozent sind dann das, was jeden von uns zum Individuum macht. Sie erläutert, wie außer den Genen auch die Umwelt die Intelligenz beeinflußt, was Tests mit eineiigen Zwillingen oder der sogenannte Flynn-Effekt nahelegen. Und sie stellt klar, dass Erblichkeit als der genetische Anteil der IQ-Varianz immer eine relative Größe ist und daher nur die Unterschiede in einer Gruppe, aber nicht zwischen Gruppen von Menschen erklären kann.
Über die Suche nach der kleinsten gemeinsamen Wirklichkeit in der Wissenschaft – Kapitel 9
Ohne Fangfrage geht es hier direkt zur Sache. Es geht der Autorin um die Wut in sozialen Medien, die impulsiv, ungerichtet und schnell unverhältnismäßig daherkomme – das Internet als eine Art Boxsack. Die sogenannte Cancel Culture gipfle in einer öffentlichen Verurteilung von Personen mit schwerwiegenden Konsequenzen für deren echtes Leben. „Der Unterschied zwischen Fake News und echter Information sowie zwischen valider Kritik und persönlichem Angriff liegt in der Sachlichkeit. Ohne ein Verständnis der Tatsachen können wir diese Unterscheidungen also nicht machen. Solange wir kein gemeinsames Verständnis darüber haben, was wirklich Wirklichkeit ist, können wir auch nicht richtig streiten.“ (S. 319).
Nguyen-Kim plädiert für einen Konsens in den Kernaspekten wissenschaftlicher Themen, der – obwohl von den Medien eher negiert – unter Wissenschaftlern immer gegeben sei. Sie führt dabei in einer Box 24 Fakten zum Klimawandel an, aber korrigiert die Aussage, 97 Prozent der Klimaforscher seien sich einig, dass der Klimawandel menschengemacht ist. Das zugrundeliegende Papier aus 2013 werde selbst von Klimaforschern unter methodischen Gesichtspunkten kritisiert.
Wissenschaftlicher Konsens komme nicht durch Abstimmungen zustande, auch verändere er sich mit jeder neuen Erkenntnis. Zum wissenschaftlichen Spirit – wie sie es nennt – gehörten wissenschaftliches Denken, wissenschaftliche Methoden sowie eine tragfähige Fehler- und Diskussionskultur. Jede neue Erkenntnis zeichne ein besseres Bild von der Wirklichkeit. Die Autorin ruft dazu auf, in der Wissenschaft nicht weniger, sondern besser zu streiten. Einzig der Gedanke mit dem von ihr so genannten Debattenfehlschluss vermag nicht zu überzeugen. Denn dadurch wird sakrosankt, was wie die wissenschaftliche Erkenntnis ständig im Flusse ist.
Was wir ausklammern und den geneigten Leserinnen und Lesern selbst überlassen
Die aktuelle Drogenpolitik, die ohne eine rationale Bewertungsgrundlage auskommen muss (Kapitel 1) und die sogenannte Gender Pay Gap, die sich vor allem darin zeigt, dass systemrelevante Arbeit monetär nur unzureichend entgolten wird (Kapitel 3). Die alternative Medizin, die als begleitende Zusatzmaßnahme – aber auch nur so – sinnhaft sein kann (Kapitel 4). Weiterhin, dass Frauen und Männer einfach anders denken, weil sie nicht gleich sind, aber trotzdem gleichberechtigt sein können (Kapitel 7) und auch das Für und Wider von Tierversuchen (Kapitel 8). Zu alledem entwickelt die Autorin dezidierte Anschauungen, indem sie herausfindet, auf was wir uns tatsächlich einigen können, aber auch wo die harten Fakten aufhören und damit der Raum für persönliche Meinungen und eine gepflegte Streitkultur entsteht.
Was fehlt und worauf man verzichten kann
Es fehlen Ausführungen zu/über Paul Watzlawick und seinen Klassiker „Wie wirklich ist die Wirklichkeit“, ebenso zur Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie von Karl Popper, mündend im „Kritischen Rationalismus“. Aber dies ist kein echter Makel, denn auch ungenannt steht die Autorin eindeutig auf deren breiten Schultern.
Dafür erscheint gefühlt der Kommentar von Claus Kleber auf dem rückseitigen Bucheinband deplaziert, weil er selbst sich bei seiner Moderation nicht immer von Fakten und der reinen Vernunft leiten läßt. Das Druckfehlerteufelchen hat übrigens auf S. 333 unten zugeschlagen, was – wie schon hier erwähnt – selbst bei renommierten Verlagen in der Erstauflage nicht gänzlich auszuschließen ist.
Widmung
Den Beitrag „Wirklichkeit verdeutlichen“ widme ich Juliane und Maria – jung gebliebenen Zwillingen -, die heute ihren Geburtstag feiern.
Und hier geht es weiter ins Netz.
#PreppoKompakt
Ein intelligentes Buch für vernunftbegabte Menschen – nicht mehr und nicht weniger. Aber eben auch nicht bar jeder Bildung – quasi voraussetzungslos – zu lesen und zu verstehen. Auf jeden Fall ein richtiger Crash-Kurs u.a. in Fächern wie Statistik und Genetik. Erschließt gekonnt neue Zugänge zur Wirklichkeit.
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