Sicherheit, wie auch ihr Gegenstück – die Unsicherheit, erfährt je nach Zeit und Raum ganz unterschiedliche Ausprägungen. Das hat allein schon das hinter uns liegende 20. Jahrhundert mit all seinen Irrungen und Wirrungen gezeigt. Die in unseren modernen Gesellschaften westlicher Prägung verbreitete Null-Risiko-Mentalität – schon hier kritisiert – wirkt anachronistisch und ist zunehmend kontraproduktiv. Anpassung tut Not, wobei Fatalismus keine echte Alternative ist. Der Fanatismus jeglicher Couleur hat erst recht keine Existenzberechtigung.
Null-Risiko-Gesellschaft ein „Fake“
Eric Gujer beschäftigt sich in der NZZ vom 20.11.2020 mit der Null-Risiko-Gesellschaft und der daraus erwachsenen Erwartungshaltung: „Jedes Problem soll sofort und wirksam bekämpft werden. Parlamente und Verwaltungen spucken tagtäglich Gesetze und Erlasse aus, um alle erdenklichen Risiken in den Griff zu bekommen. … Die Null-Risiko-Gesellschaft tut sich schwer mit Krisen, die so gross und umfassend sind, dass sie sich nicht schnell und wirksam bekämpfen lassen. Die sich in gewissem Umfang wie eine Naturkatastrophe nur aushalten lassen. Hier ist Beharrlichkeit erforderlich und die Bereitschaft, trotz Rückschlägen am eingeschlagenen Weg festzuhalten.“
Risikoforschung gefragt
Was sagt der gestandene Risikoforscher, den wir bereits kennen – Didier Sornette, Professor für unternehmerisches Risiko an der ETH Zürich -, dazu? Und zwar schon am 12.2.2020 im Interview mit der NZZ: „Das Leben ist Risiko, und das Risiko ist Leben. Eine Situation ohne Risiko wird in der Physik als thermodynamisches Gleichgewicht bezeichnet – und bedeutet den Tod. Der Mensch ist aber stetig im Ungleichgewicht und produziert Entropie. Das ist riskant. Dennoch erliegen wir dem Irrglauben, risikofrei leben zu können. Doch wer alle Risiken beseitigen will, beschränkt nicht nur die Freiheit, er verunmöglicht auch Neues. Denn Forschen heisst, Risiken auf sich zu nehmen, das Unbekannte zu erkunden. Eine Gesellschaft, die Risiken immer stärker kontrollieren will, steuert auf ihren Tod zu.“
Zwei Punkte fallen noch ins Auge
Zum einen Sornettes – in Widerspruch zu seinem Freund Nassim N. Taleb stehende – Überzeugung, dass es keine „Schwarzen Schwäne“ gibt, das heißt auch seltene Ereignisse vorhersehbar sind (wir haben hier die Taleb’sche Schöpfung beschrieben). Er spricht statt dessen von „Drachenkönigen“ und versteht darunter statistische Ausreißer mit großer Wirkung.
Zum anderen seine Einstellung zur Nutzung der Kernenergie/Atomkraft: Dass die Schweiz und Deutschland beschlossen haben, ihre Atomkraftwerke (AKW) zu schliessen, bezeichnet der gebürtige Franzose als traurig. Denn sie gehörten zu den vertrauensvollsten Ländern und seien technisch gut aufgestellt. Die Technologie der AKWs verändere sich, die Risiken nähmen ab. „Wir stehen im 21. Jahrhundert und basieren unsere Entscheide auf dem Technologiestand der 1970er Jahre. Es ist falsch, sich den Weg der Atomkraft zu versperren.“ So Prof. Didier Sornette (hier seine Internetseite mit den Themen „Financial Crisis Observatory“ sowie „Nuclear energy“).
Islamistischer Terror in Europa als Risiko erlebbar
Über die IT-Sicherheit hatten wir im Blog schon mehrfach geschrieben, unter anderem hier. Über Gefahren durch islamistischen Terror – wenn man so will, das selbe Kürzel – noch nicht. Nun kann man in November in der NZZ – wie übrigens in keiner anderen Zeitung mit Niveau – gleich mehrfach Erhellendes darüber erfahren, beginnend am 11.11.2020.
Wiener Attentat
Auslöser war das einschlägige Wiener Attentat, bei dem am 2. November Kujtim F., ein bei Wien geborener österreichischer Staatsbürger mit nordmazedonischen Wurzeln, neun Minuten lang wahllos auf Passanten und Kaffeebesucher schoss. „150 Schuss gibt der 20-Jährige ab, ehe ihn … um 20 Uhr 09 ein Angehöriger der österreichischen Spezialeinheit Wega ausschaltet. Ein Barbesucher, eine Kunststudentin, eine Kellnerin und ein Lokalbetreiber sind zu diesem Zeitpunkt ebenfalls tot, mehr als zwanzig Menschen zum Teil schwer verletzt.“
Gilles Kepel
Am 12.11.2020 kommt der französische Politologe und Islamkenner Gilles Kepel in der NZZ zu Wort und warnt eindringlich vor einer neuen Form des Terrors, die ganz Europa bedrohe.
Den Islamischen Staat (IS) mit einer netzwerkartigen Struktur gebe es nicht mehr, aber: „Es gibt noch viele Individuen, die dessen Ideologie leben, unter anderem in den Gefängnissen. Vor allem in Frankreich, aber auch in der Schweiz, in Deutschland und offenbar auch in Österreich. Sie haben zwar keine organisatorische Kapazität mehr. Aber sie teilen immer noch den Diskurs des Hasses auf den Westen und den Wunsch, sich zu rächen. Und was sich noch verändert hat: Der politische Islam hat sich weitgehend radikalisiert.“ Kepel spricht in diesem Zusammenhang von Stimmungs-Jihadismus.
Anschlag auf die Basilika von Nizza
Zum Anschlag vom 29. Oktober auf die Basilika von Nizza, bei dem drei Personen mittels einer Stichwaffe getötet wurden, wisse man im Moment noch nicht viel. Der Täter sei erst vor kurzem aus Tunesien nach Europa gekommen. Er könne nicht allein gehandelt haben, „… dafür war er zu dumm. Aber es ist nicht klar, ob er begleitet worden ist oder ob er den Auftrag zu töten erst in Nizza erhalten hat.“
Der Ratschlag: „Man muss vorausschauender handeln, um zu verhindern, dass eine solche Stimmung entsteht. In Europa wird das Probleme auf legislativer Ebene geben. Denn es wird heissen, Freiheiten teilweise einzuschränken, um unsere Sicherheit zu verbessern. Das ist ein philosophisches Problem. Aber wenn wir es nicht machen, werden wir immer mehr Sicherheitsprobleme haben, mit Leuten, die auf der Strasse getötet werden.“ So Gilles Kepel.
Messerstecherei von Lugano
Über die Messerstecherei in Lugano/Tessin vom 24. November mit einer Frau als Angreiferin berichtet die NZZ vom 25.11.2020. Diese habe „Allahu akbar“ gerufen, bevor sie auf ihre Opfer losgegangen sei. Die den Behörden bereits als radikalisiert bekannte 28-Jährige entwendete in der Haushaltsabteilung des Warenhauses ein Küchenmesser. Ihr erstes Opfer habe sie gewürgt und später auf eine zweite Frau eingestochen. Durch das beherzte Eingreifen eines Paares konnte die Angreiferin gestoppt werden. Ein Opfer trug schwere Verletzungen davon.
Nicoletta della Valle
Nicoletta della Valle, Direktorin des Bundesamtes für Polizei (Fedpol – Bundesbehörde der Schweizerischen Eidgenossenschaft mit Sitz in Bern), vermutet einen terroristischen Hintergrund der Tat. Dieser Angriff überrasche sie nicht, solche Attacken geschähen überall auf der Welt.
Weitere Einschätzungen zur Lage
Birgül Akpinar
- Am 17.11.2020 äußert die baden-württembergische CDU-Politikerin und Islamexpertin Birgül Akpinar im Interview mit der NZZ ihre gedanklich klare, eindeutige Meinung. Man müsse sich davon verabschieden, dass Religion ein Mittel der Integration sein kann. Der Staat müsse die islamischen Verbände entmachten und an den Schulen das Grundgesetz durchsetzen. Sie fordert zudem ein Verbot der Grauen Wölfe.
Hannes Swoboda
- Unter der Überschrift „Europas Kampf gegen den Islamismus“ kommt im DerStandard vom 19.11.2020 Hannes Swoboda, Vorstandsvorsitzender des Sir-Peter-Ustinov-Instituts zur Erforschung und Bekämpfung von Vorurteilen und Präsident des International Institute for Peace zu Wort: Er mahnt eine erhöhte Wachsamkeit gegenüber Predigern und potenziellen Terroristen und einen Kampf gegen die an, die entschlossen sind, Anschläge zu unternehmen. Es brauche eine starke Zusammenarbeit der europäischen Sicherheitsbehörden. Europa müsse mit einer umfassenden, intelligenten und zielgerichteten Strategie alle Formen des Terrorismus bekämpfen. Der Terror in Europa habe nicht nur eine Wurzel.
„Europa muss jedenfalls alle ideologischen und religiösen Hintergründe des Terrorismus benennen und wirksam entzaubern. Mord ist Mord und kann durch nichts gerechtfertigt werden. Und besonders verwerflich und perfid sind Aufrufe zum Hass, zum Mord und zum Selbstmord von denen, die dann aber selbst das Leben in Sicherheit bevorzugen. Wenn solche Aufrufe und Aktivitäten unter politischem Islam verstanden werden, dann muss Europa klar gegen ihn vorgehen, wie gegen alle anderen Formen der Verbreitung von Hass und der Anstiftung zu Gewalt.“ So der Österreicher Hannes Swoboda.
Ahmad Mansour
- Der deutsch-israelische Psychologe Ahmad Mansour bilanziert, man habe in Deutschland, was Deradikalisierung anbelangt, in der Forschung, in der Gesetzgebung, bei der Prävention enorm viel dazugelernt. „Was fehle, und das hätten die jüngsten Attentate wieder gezeigt, sei eine enge europäische und globale Zusammenarbeit im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus. Dazu brauche es noch mehr Prävention. … Es müsse dringend gegen die geistigen Brandstifter dieser Ideologie vorgegangen werden, die Parallelgesellschaften fördern und Demokratie ablehnen.“
Er sagte dies im Rahmen einer Video-Konferenz in „illustrer Runde“, über die in der NZZ vom 20.11.2020 aktuell berichtet wurde. NRW-Ministerpräsident Armin Laschet, der frühere französische Premierminister Manuel Valls, die österreichische Integrationsministerin Susanne Raab, Forscher und Experten partizipierten.
Mansour forderte auch ein Konzept für die vielen Rückkehrer aus Syrien ein. An die 5000 Kämpfer aus Europa seien in das Kalifat des IS ausgereist, ein Großteil habe die Kämpfe überlebt und besäße die Staatsbürgerschaften europäischer Länder.
Julia Ebner
- Julia Ebner vom Londoner Institute for Strategic Dialogue, verwies auf die Schwierigkeiten, einem globalisierten Jihadismus zu folgen, der viele seiner Aktivitäten ins Netz verlegt habe. Um den personellen Nachschub abzuschneiden, müsse man vor allem in Europa aufgewachsene junge Muslime in Identitätskrisen auffangen. Beim Attentäter von Wien sei dies nicht gelungen. „Obwohl dieser in Deradikalisierungsprogramme aufgenommen worden war, setzte er seinen Weg in den Terrorismus fort – vor allem online.“ So Julia Ebner bei derselben Video-Konferenz.
Kacem El Ghazali
- Reformiert den Islam nicht, empfiehlt der in Marokko geborene Schweizer Staatsbürger Kacem El Ghazali in der NZZ vom 23.11.2020. Islamische Gesellschaften bräuchten keine religiösen Reformer, die Modernität und Menschenrechte weiterhin der Autorität der Religion unterordnen. Es bräuchte mutige Frauen und Männer, die aufzeigen, was im Westen geschehen ist. Religion, so deren Botschaft, könne sicherlich die spirituelle Erfahrung des Einzelnen bereichern, jedoch keine politischen oder wissenschaftlichen Theorien legitimieren.
„Wenn eine Mehrheit der Muslime erkennt, dass Religion nur das Individuum, nicht aber die Politik betrifft, wird ‚Reform‘ ein Thema sein, das nur noch die Gläubigen angeht. Der Staat hat kein Recht, den Gläubigen zu sagen, wie sie ihre Religion verstehen sollen. Ebenso wenig hat der religiöse Mensch ein Recht darauf, dem Staat und der Gesellschaft seine Überzeugungen aufzuzwingen.“
Ayaan Hirsi Ali
- Ayaan Hirsi Ali, eine somalisch-niederländisch-amerikanische Intellektuelle, die übrigens mit Niall Ferguson – wir haben ihn hier ins Spiel gebracht – verheiratet ist, bringt es in der NZZ vom 24.11.2020 auf den Punkt.
„Die westliche Kultur mit ihrer Entdeckung der Freiheit ist allen anderen Kulturen überlegen, in der Vergangenheit und auch in der Gegenwart. Sie hat es zustande gebracht, die Unterdrückung der Frau, den Feudalismus und das Stammesdenken zu überwinden. Sie hat gesellschaftliche Offenheit, politische Freiheit, technische Innovation und wirtschaftlichen Wohlstand geschaffen. Ich leugne nicht, dass andere Kulturen ebenfalls ihr Besonderes und Wertvolles haben – aber die Freiheit der westlichen Kultur ist für alle Menschen von unschätzbarem Wert.“ Das sagt eine gebürtige Somalierin.
Eine Art Resüme
In der NZZ vom 27.11.2020 wird in einem Kommentar eine Art Resüme gezogen: Die religiös motivierte Gewaltbereitschaft führe zu einem Fanatismus, dem mit konventionellem Strafvollzug und gut gemeinten Programmen zur Deradikalisierung nicht beizukommen sei. Für verurteilte Inländer müsse deshalb die Möglichkeit einer anschliessenden Sicherheitsverwahrung ausgebaut werden. Die praktizierte vorzeitige Haftentlassung sei bei islamistischen Tätern kontraproduktiv. Und nicht anerkannte oder geduldete Flüchtlinge sollten konsequenter als bisher abgeschoben werden. Jetzt sei es an der Zeit, die Europäer besser vor religiösen Fanatikern zu schützen, welche den über die UN-Konventionen hinausgehenden europäischen Rechtsschutz missbrauchen.
„Die französische Politik will nach den jüngsten Anschlägen schärfer gegen die unselige Trias aus Religion, Migration und Terrorismus vorgehen. In Deutschland hingegen scheut man eine härtere Gangart [wie hier dokumentiert – JG] und findet dafür einige Ausreden, deren platteste lautet, man dürfe der AfD keinen Auftrieb geben. Im Gegenteil, nichts fördert Populismus mehr als Gleichgültigkeit der etablierten Parteien. Vorschläge für ein konsequenteres Handeln auf europäischer wie nationaler Ebene liegen auf dem Tisch. Wer sie nicht aufgreift, macht sich an den nächsten Attentaten mitschuldig.“ So Eric Gujer, Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung.
Dem ist nichts hinzuzufügen!
Und hier geht es weiter
#PreppoKompakt
Also Risiken keinesfalls überzeichnen und dramatisieren, aber auch nicht kleinreden. Sich über die verschiedenen Ausprägungen umfassend informieren. Aber eine Gesellschaft muss auch gewisse Risiken eingehen, um Fortschritte zu erzielen. Und sofern ein unvertretbares Risiko vermeidbar ist, es so gut es geht vermeiden. Sowie, das ist ganz entscheidend, konsequent das Gewaltmonopol des Staates achten und wahren.