Klimawandel: Verfassungsfragen und ein Koalitionsvertrag

Schon am 1. März waren hier Antworten von Dr. André D. Thess, Professor für Energiespeicherung an der Universität Stuttgart, zu lesen. Die Fragen drehten sich um sein Ende 2020 erschienenes Buch über Energiewendemärchen, aus dem plausibel die Vorgabe „Sonne, Wind und Kerne“ herzuleiten ist. Nun stand er uns aus aktuellem Anlass – der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Klimaschutz und dem Ergebnis der Stuttgarter grün-schwarzen Koalitionsverhandlungen – erneut „Rede und Antwort“. Nachfolgend unsere sechs Fragen rund um den Klimawandel und die Antworten von Prof. Thess.

Klimawandel und -schutz in Baden-Württemberg
1. Herr Prof. Thess, Ihr Energiewende-Buch ist durch die Bank gut aufgenommen und besprochen worden. Darf ich fragen, wie sich das in den Verkaufszahlen niedergeschlagen hat?

Die Verkaufszahlen werden erst Ende 2021 vorliegen. Auch wenn mein Buch über mehrere Wochen lang auf Platz eins der Amazon-Bestsellerliste in den Rubriken Energietechnik und Energiepolitik stand, muss Joanne K. Rowling in absehbarer Zeit keine Konkurrenz von mir fürchten.

2. In Stuttgart, quasi Ihrer Nachbarschaft, wurde sieben Wochen lang „intensiv und konstruktiv“ der grün-schwarze Koalitionsvertrag 2021-2026 verhandelt. Hat Sie das tangiert und wenn ja, in welcher Weise?

Da unsere Forschung in beträchtlichem Umfang von Baden-Württemberg finanziert wird, habe ich Interesse an stetiger und berechenbarer Unterstützung durch das Land und hoffe, dass sich dies fortsetzt. Direkt sind wir von den Verhandlungen nicht betroffen. Als politisch denkenden Bürger erfüllt es mich jedoch mit Sorge, falls das schwäbische Erfolgsrezept „Freiheit und Eigenverantwortung“ durch Kleinteiligkeit und Paternalismus verwässert werden sollte.

3. Seit Mittwoch liegt nun der Erneuerungsvertrag für Baden-Württemberg „Jetzt für morgen“ zwischen Grünen und CDU vor und soll heute, Samstag, den 8. Mai, auf digitalen Parteitagen beraten, abgestimmt und beschlossen werden. 161 Seiten lang mit 14 Kapiteln und etlichen „road maps“ – ja, wir können alles, außer Hochdeutsch. Davon speziell zum Klimawandel die Seiten 24 bis 33 und darüber hinaus im gesamten Text vielerlei Bezüge zu diesem Thema. Aber alles nur Sonne und Wind, ein bisschen Wasserstoff, keine Kerne. Wurde da eine Chance verpasst?

Die Passagen zu Energie und Klima erwecken den Eindruck, hohe staatliche Regulierungsdichte sei der Schlüssel zu Erfolgen in Wirtschaft und Klimaschutz. Wenn dies so wäre, hätte die Sowjetunion mit ihren zeitweise über 30 Ministerien das erfolgreichste Land der Welt sein müssen; und obendrein ökologischer Musterknabe!

Die Kernenergie in Baden-Württemberg ist wie der sprichwörtliche Elefant im Raum. Über ihn möchte anscheinend niemand sprechen. Hier kommt mir als Professor – und gemäß unserem Grundgesetz als Träger der Wissenschaftsfreiheit – die Rolle zu, gelegentlich einige unbequeme Wahrheiten auszusprechen: Die Energieversorgung der Region wird auch in Zukunft von der Kernenergie mitgeprägt. Französischer Atomstrom trägt heute wie morgen zur Versorgungssicherheit bei. Und man muss schon sehr naiv sein, um zu glauben, dass der importierte Wasserstoff der Zukunft nicht auch aus Atomstrom gewonnen werden wird. Wollen wir dann morgen eine Wasserstoffpolizei an deutschen Grenzen installieren, um den atomaren Wasserstoff an der Einreise zu hindern?

4. Fast schon als Entschuldigung kann in diesem Zusammenhang die am 29. April veröffentlichte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe zum Klimaschutz gesehen werden. Wie eine Art Tsunami – ohne Personen- und Sachschäden – ist sie über uns hereingebrochen. Und nicht nur in Stuttgart, auch in Berlin und anderswo in Deutschland werden nun die Fahrpläne in Richtung Klimaneutralität enger gefasst. Der Zeitpunkt war günstig gewählt, sagen die einen, höchst ungeschickt, die anderen. Wie sehen Sie das?

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts beruht nach meiner Einschätzung auf einer Unkenntnis der finanziellen Risiken der Energiewende, die in Kapitel 6 meines Buches umfassend beschrieben sind. Da das Urteil jedoch nun gefallen ist, sollten wir uns auf seine konstruktive Umsetzung konzentrieren. Hier tun sich nach meiner Meinung interessante Perspektiven auf. Verknüpft man nämlich das Urteil zum Klimaschutz mit dem für eine Marktwirtschaft konstitutiven Wirtschaftlichkeitsprinzip, so folgt für mich als Energieforscher zwangsläufig die Notwendigkeit einer Neubewertung der Kernenergie. Meine Einschätzung steht übrigens im Einklang mit dem Weltklimarat IPCC, der die Kernenergie in die Rubrik klimaneutrale Energiequellen einordnet. 

5. Damit noch einmal zurück zum Kern bzw. den Kernen. Der Generaldirektor der globalen Kernenergie-Behörde (Nuclear Energy Agency – NEA), der US-Amerikaner William Magwood, sagt ganz klar im Interview mit faz-net vom 22.4.2021 (hinter Bezahlschranke), dass dem Klimawandel nur durch Einsatz der Kernkraft beizukommen ist. Und er bedauert die deutsche Ausstiegs-Entscheidung. Haben Sie noch Hoffnung für unser Land, gar auf eine Wende?

Was die Wendefähigkeit deutscher Parteien anbelangt, bin ich optimistisch. Jeder der die historische Bedeutung des 13. Mai 1999 kennt, kann sich ein Bild davon machen, wie uns die deutschen Atomgegner möglicherweise eines Tages die Kernenergie als Klimaretterin verkaufen werden. Man wird sie vermutlich erst mit irgendeinem verschwurbelten Marketingbegriff analog zu „demand site management“ versehen und dem Volk dann als alternativlos präsentieren.

6. Wie viele Interviews haben Sie seit dem Erscheinen Ihres Energiewendemärchen-Buches Zeitungen und Medien – außer Preppo – gegeben? Anders gefragt, was gilt der Prophet im eigenen Land wirklich?

Ich bin seit Erscheinen meines Buches in dutzenden Online-Vorträgen mit Menschen in Kontakt gekommen, denen ich in meiner Forschungsarbeit nie begegnet wäre. Über deren regen Zuspruch aus den unterschiedlichsten Lebensbereichen habe ich mich sehr gefreut; einmal schrieb mir ein Gymnasiallehrer sogar „beste Grüße aus der Klausuraufsicht Physik“. Für die Nach-Corona-Zeit sind auch Lesungen in Vorbereitung. Im Gegensatz dazu sind die großen deutschen Zeitungen mit Interviewanfragen zurückhaltend. Das liegt vermutlich daran, dass meine Kritik an pseudowissenschaftlichen Denkfabriken oder die Enthüllungen über die CO2-Kompensation von Flugreisen nicht zum Zeitgeist passen. Hinter vorgehaltener Hand erfahre ich dann gelegentlich, dass manche Themen „hochpolitisch“ sind und „lieber nicht in die Öffentlichkeit sollten“.

Vielen herzlichen Dank, Herr Prof. Thess.

Hier übrigens das Ergebnis der beiden Parteitage:

Sowohl CDU – mit 83 zu 17 Prozent – als auch Grüne – mit 85 zu 15 Prozent – haben den Koalitionsvertrag „Jetzt für morgen“ abgesegnet.

Und nachdem das geklärt ist, werden wir hier wieder spitzfindig.

#PreppoKompakt

Dr. André D. Thess von der Universität Stuttgart war in den letzten Wochen zumindest räumlich nahe an den Orten, wo weitreichende Entscheidungen zum Klimaschutz vorbereitet wurden. Wohingegen – wie seine Antworten zeigen – die Auffassungen vom richtigen Weg unterschiedlich sind. Ob mit oder weiterhin ohne Kernkraft, die Zukunft wird es weisen. Vermutlich haben wir uns aber den steinigeren Weg ausgesucht.

Um das eigene Gedächtnis aufzufrischen, habe ich in der NZZ vom 11.1.2020 in einem Artikel zum 40. Geburtstag der Grünen folgendes nachgelesen: „1999, Sonderparteitag in Bielefeld. Es geht um die Frage, ob die Grünen den Einsatz der Bundeswehr unter Nato-Führung in Kosovo billigen, und letztlich auch darum, ob grüne Politik auch deutsche Aussenpolitik sein kann, ja sein darf. Der Widerstand in der Partei ist heftig, nur unter Polizeischutz werden die Delegierten in die Halle geführt. Drinnen trifft den damaligen Aussenminister Joschka Fischer ein Farbbeutel am Ohr. Doch die Delegierten wissen: Stimmen sie gegen den Einsatz der Bundeswehr, ist die rot-grüne Koalition am Ende. Sie stimmen dafür.“

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