Spitz-findig-keit #32

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Spitz oder Spitze sind in aller Regel pointierte Aussagen zum Zeitgeschehen. Dies kann, muss aber nicht die Politik betreffen. Es kann auf die Gegenwart oder auch auf die Vergangenheit gemünzt sein. Spitz ist eine Aussage dann, wenn sie sticht, der betreffenden Person oder Personengruppe wehtut, spitze, wenn sie ausgezeichnet formuliert ist und im Idealfall zudem die Wahrheit abbildet. Fi/ündig, wenn der beschriebene Umstand nicht ganz offensichtlich, also erst zu ergründen ist. Und -keit lässt auf unterschiedliche menschliche Eigenheiten/-schaften schließen, wie beispielsweise Eitelkeit, Heiterkeit, Überheblichkeit oder, oder. Alles zusammengenommen eine echte Spitzfindigkeit. In unserer Kolumne ‚Spitz-findig-keit‘ zitieren wir in lockerer Folge jeweils zwei oder drei Aussagen und verschonen dabei auch nicht klassische Denkerinnen und Denker.

Um Denkanstösse zu geben, die Freude am Formulieren zu wecken – nichtzuletzt auch um dem Humor in unserer doch etwas trostloseren Zeit wieder mehr Geltung zu verschaffen. Erhöht das Wohlbefinden. Packen wir es an! Ich sage nicht, wir schaffen das. Aber wir probieren es auf jeden Fall!

Spitzfindigkeiten zuhauf!

Vorbemerkung

Es gibt nach Immanuel Kant auch eine falsche Spitzfindigkeit, die wir uns hier allerdings nicht zu eigen machen wollen. Wer dem dennoch nachgehen möchte – Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren – kann dies hier gerne tun.

Aber heute begegnen wir nicht nur Sigmund Freud, den das Stockholmer Nobelpreiskomitee viele Male „sträflich“ übergangen hat – liebe Leute, ist das nicht „cringeworthy“? Sondern auch einem 60-jährigen Schriftsteller, der gekonnt mit seinen Gedichten experimentiert und sich dabei nicht nur um die Sprachsensibilität von Kindern und Jugendlichen kümmert. Dafür ist der in Hausach Geborene mit der spanischen und deutschen Sprache sowie dem alemannischen Dialekt seiner Schwarzwälder Heimat bestens prädestiniert.

1. Spitz-findig-keit

José F.A. Oliver: Mig:rationen, häppchenweise (vereinzelte) Grammatiken. Korrektuhren, S. 70 – 74, Begegnungen, Hanser Akzente, Heft 3, Oktober 2021, herausgegeben von Anja Kampmann.

Im Akzente-Heft wird er als Lyriker, Essayist und Übersetzer andalusischer Herkunft vorgestellt. Am 26. November erhält er in Köln den Heinrich-Böll-Preis. Laut Begründung der – unter Vorsitz der Stadt Köln tagenden – Jury, gehört José F.A. Oliver „… zu den herausragenden Lyrikern und Essayisten unserer Zeit. Die Sprachmagie seiner Verse sowie seiner Prosa, die ein Alphabet aus Aufbruch und Ankunft deklinieren, sind von analytischer Prägnanz, fein durchdacht und dabei von haptischer Lebenslust durchzogen!“ Dafür ein wunderbarer Beleg sein Pas De Deux (S. 73-74).

Zunächst erschrickt man leicht, weil er in den Texten mit dem Doppelpunkt spielt. Aber schnell wird klar, dass er nicht gendert (wie zuhauf die Stadt Köln, nur die Leichte Sprache bleibt vom * verschont), sondern ausprobiert, welche Möglichkeiten des Ausdrucks darin stecken. Hier nur mit dem Epi Log (S. 72) ein klitzekleines Beispiel: „Wir. Waren. In der Sprache. Nicht vorgesehen. Usw. Sind. ‚Usf:ort‘.“

2. Spitz-findig-keit

Kurzer – nicht ungewöhnlich für die gewollt „Kürzeste Chronik“ -, aber wohl auch leicht schmerzlicher Eintrag im Tagebuch von Sigmund Freud (1856 – 1939), Wien, vom 31. Oktober 1929 (heute vor 92 Jahren): „im Nobelpreis übergangen“. (Wiedergegeben im von Rainer Wieland herausgegebenen Buch „Stand spät auf, legte mich aber dann wieder hin“* – Durch das Jahr mit dem Buch der Tagebücher, Piper-Verlag, München 2020, S. 508 und S. 626.)

Laut NZZ vom 2.10.2017 wurde Freud insgesamt 33 Mal für den Nobelpreis vorgeschlagen. 32 Mal davon für Physiologie oder Medizin. Nach seinem obigen Tagebucheintrag „im Nobelpreis übergangen“ erging es ihm so noch 22 Mal, wie auch das offizielle Nominationsarchiv belegt. Zum Seelenzustand Freuds nach der 32. Abfuhr weiß Die Presse vom 5.10.2017 zu berichten: „Freud war tief gekränkt, seine gute Freundin und Übersetzerin Marie Bonaparte von Frankreich brachte deshalb den Schriftsteller Romain Rolland dazu, Freud 1936 für den Literatur-Nobelpreis zu nominieren. Auch das misslang.“

Da fällt einem selbst für den Vater der Psychoanalyse posthum nur Friedrich Nietzsche mit „Also sprach Zarathustra“ ein: „Gelobt sei, was hart macht.“

3. Spitz-findig-keit

„Cringe“ – was das wohl bedeuten mag? Lassen wir uns vom DerStandard vom 25.10.2021 über das deutsche Jugendwort des Jahres 2021 aufklären: „Cringe“ setzte sich im Online-Voting des Langenscheidt-Verlags mit mehr als 1,2 Millionen Vorschlägen im Finale gegen „sus“ (verdächtig) und „sheesh“ (Ausdruck für etwas Erstaunliches) mit 42 Prozent der abgegebenen Stimmen durch.

Das englische Wort „cringe“ – wörtlich übersetzt mit zusammenzucken, kriechen und umschrieben als kriecherische Höflichkeit, Speichelleckerei – beschreibt in Jugendsprache nicht nur ein Gefühl des Fremdschämens, es drückt auch peinliche Situationen aus. Als Adjektiv beschreibt „cringy“ etwa den Versuch, wenn Erwachsene cool wirken wollen. In den sozialen Netzwerken werden solcherart beschämende Vorgänge mit dem Ausdruck „cringeworthy“ belegt.

#PreppoKompakt

Ohne cool wirken zu wollen, die vielen abgelehnten Freudschen Nominierungen waren für die jeweiligen Nobelpreis-Komitees im nachhinein schon echt „cringeworthy“. Gratulation hingegen der Jury der Heinrich-Böll-Stiftung, die in 2021 ein erstaunliches Gespür für Sprachmagie & Lebenslust bewiesen hat, richtig echt „sheesh“.

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