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Kernkraft liefert Schlagzeilen. Die erste, die sich offiziell zu diesem Thema äußerte, war die geschäftsführende Bundeskanzlerin, wir haben es hier festgehalten. Dabei scheint es fast so, als ob sie diesen Teilaspekt des Klimaschutzes vom Ende her gedacht hätte. Eine Stärke, die ihr in den sechzehn Jahren, als sie Regierungsverantwortung trug, in wohlmeinenden Kommentaren immer wieder mal nachgesagt wurde. Nun aber liefert in der Tat die Kernkraft Schlagzeilen im von Angela Merkel beschriebenen Sinn. Seit Mitte Dezember wird das Thema von den Medien – national und international – verstärkt aufgegriffen. Auslöser dafür ist die sogenannte EU-Taxonomie.
Mit der EU-Taxonomie ins neue Jahr
Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 1.1.2022
„Durch die EU-Taxonomie sollen private Investitionen mobilisiert und in Tätigkeiten gelenkt werden, die notwendig sind, um in den nächsten 30 Jahren Klimaneutralität zu erreichen. … Die Taxonomie listet Energietätigkeiten auf, die es den Mitgliedstaaten ermöglichen, sich von ihren sehr unterschiedlichen Ausgangspositionen aus in Richtung Klimaneutralität zu bewegen.
Gestützt auf wissenschaftliche Gutachten und angesichts des derzeitigen technischen Fortschritts sowie der unterschiedlichen Herausforderungen in den Mitgliedstaaten ist die Kommission der Auffassung, dass Erdgas und Kernenergie eine Rolle dabei zukommt, den Übergang zu einer überwiegend auf erneuerbaren Energien basierenden Zukunft zu erleichtern.“
Fristen und Quoren
Bis zum 12. Januar muss nun eine Sachverständigengruppe der Mitgliedstaaten für nachhaltiges Finanzwesen ihre Stellungnahme dazu übermitteln. Die Kommission wird diese analysieren, den entsprechenden Rechtsakt im Januar annehmen und anschließend dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat zur Prüfung vorlegen.
Parlament und Rat haben vier Monate Zeit, den Rechtsakt zu prüfen und gegebenenfalls Einwände zu erheben. Beide können zudem eine Verlängerung der Frist um weitere zwei Monate beantragen. Der Rat kann ihn mit „verstärkter qualifizierter Mehrheit“ ablehnen. Das heißt mindestens 72 % der Mitgliedstaaten (gleich 20 Mitglieder) mit mindestens 65 % der Bevölkerung der Europäischen Union. Das Europäische Parlament kann den Rechtsakt mit einer Mehrheit, das heißt mindestens 353 seiner Mitglieder im Plenum ablehnen. So in der oben genannten Pressemitteilung beschrieben.
Merkels Einschätzung
Dass 20 EU-Mitgliedsstaaten dagegen stimmen, hielt im November letzten Jahres Bundeskanzlerin Merkel für eher unwahrscheinlich. „Das ist eine sehr hohe Hürde und ist voraussichtlich nicht der Fall“. Spätestens Ende Juli werden wir wissen, ob sie damit richtig lag.
Schlagzeilen zu Kernkraft und Klima
Ob FAZ, NZZ, DerStandard, Achse des Guten oder Tichys Einblick, überall wird seit Mitte Dezember darüber geschrieben. Und vor allem auch von der Leser- und Zuhörerschaft lebhaft kommentiert. Auf faz-net startet man mit einem technischen Problem in einem der 56 französischen Reaktoren, die den Stromverbrauch des Landes zu rund 70 Prozent decken. Und die NZZ verdeutlicht in mehreren Artikeln, in welchem Maße in den Niederlanden, Finnland, Belgien, Japan und Tschechien die Kernkraft eine Rolle spielt.
Unser Abschied aus der Kernkraft
Selbstverständlich wird auch das Abschalten unserer Kernkraftwerke in faz-net gebührend behandelt. Da ist von einem „Abschied ohne Frieden“ die Rede und auch die Bürgermeister der betroffenen Kommunen kommen zu Wort. Das sind Brokdorf, Emmerthal mit dem Kraftwerk Grohnde sowie Gundremmingen, die am 31.12.2021 abgeschaltet wurden. Weiterhin Lingen, Essenbach mit dem Kraftwerk Isar 2 sowie Neckarwestheim, unsere letzten Kernkraftwerke, die Ende diesen Jahres vom Netz gehen werden. Die fundierten Einschätzungen der fünf Männer und einer Frau gehen von Bedauern über Hoffnung bis zu Bedenken, dass aus den Zwischenlagern auch ohne die Kraftwerke Dauerlösungen werden könnten. Hier schön nachzulesen (allerdings hinter Schranke).
Deutschland kein Vorbild
Natürlich wird bei faz-net auch die Einstellung von Bundeskanzler Scholz zur Atomkraft und der darin womöglich enthaltene „Sprengstoff“ für den Koalitionsfrieden thematisiert. Ja sogar schon ein „Kaiser ohne Kleider“ gesichtet. „Deutschland bliebe gerne Europas königlicher Klimaschützer. Das Kind in Brüssel aber ruft: Der Kaiser ist nackt!“ So Jasper von Altenbockum in seinem Kommentar vom 2.1.2022.
Auf der Achse des Guten wird vom deutschen „Moralweltmeister“ gesprochen – „sauberer Strom durch Selbstbetrug“ – und unter Verweis auf Greta Thunbergs Heimatland Schweden ein „Zurück zur Kernkraft“ nahegelegt (lesenswert Manfred Haferburgs Begründung hier). DerStandard schreibt, Berlin halte sich aus dem Atomstreit in der EU heraus, und bescheinigt der eigenen Regierung, daraus eine Anti-Atom-Folklore-Veranstaltung zu machen. Österreichs Kampf gegen die Brüsseler Atomkraft-Taxonomie sei reiner Aktionismus, so hier zu lesen.
Und die NZZ spricht davon, dass im Hinblick auf den Klimawandel, Kernenergie und Erdgas eine vernünftige Lösung seien. „Die deutsche Politik sollte den Taxonomie-Entscheid jedenfalls zum Anlass nehmen, in Europa eher kleinlaut aufzutreten, wenn es um Klimaschutz geht. Die Vorbildfunktion ist passé: Die Energiewende wird immer teurer, und die eigenen Klimaziele verfehlt das Land obendrein.“
Aktuelles Erscheinungsbild der Grünen
Und auf Tichys Einblick erzählt Oswald Metzger, der selbst 20 Jahre Mitglied war, dass der Kampf gegen die Atomkraft für die Grünen noch immer zu ihrer politischen DNA gehört. Dabei wüßte auch Klima- und Wirtschaftsminister Habeck, „… dass allein die Abschaltung der letzten sechs Kernkraftwerke in Deutschland im ungünstigsten Fall den CO2-Ausstoß für die Stromversorgung im Land um bis zu 80 Millionen Tonnen im Jahr erhöhen wird.“ Er spricht von einer steilen Lernkurve für die Grünen.
Christian Geinitz schaut mit seinem Kommentar auf faz-net vom 7.1.2022 (hinter Schranke) ebenfalls in das Innere der Partei. „Die Grünen können nur schwer aus ihrer Haut. Sie sind nicht als Klimapartei entstanden, sondern als Umwelt- und Antiatomkraftbewegung. In Fragen des Tier- und Naturschutzes wagen sie inzwischen die Auseinandersetzung in den eigenen Reihen, um neue Windparks oder Stromtrassen durchzusetzen. … Alte Positionen zu überdenken ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Lernbereitschaft und Reife, die man von einer Regierungspartei erwarten darf. Auch nach dem Abschalten der eigenen Reaktoren wird Deutschland die Atomkraft dringend brauchen, dann über Stromimporte. Derselben Taxonomie, die Berlin derzeit kritisch sieht, wird man noch dankbar sein.“ Er setzt dem begrifflich noch die Krone auf, indem er von „grüner Kernspaltung“ spricht.
Kleines Stimmungsbild zu Kernkraft und Klima
Widmung
Karl von Kempis, meinem lieben Freund und alten Kollegen gewidmet. Zum Jahresende hat er seine wertvolle Arbeit bei der Europäischen Kommission in Brüssel beendet, ohne mit der Kernkraft Schlagzeilen zu machen.
Und schon werden wir hier wieder spitzfindig!
#PreppoKompakt
Nach dem Ergebnis dieser sicherlich nicht repräsentativen Meinungsumfrage, rückt der Kipppunkt immer näher. Erfrischend, dass bei uns darüber diskutiert wird, ob die Kern-/Atomkraft im Energiemix zukünftig wieder eine Rolle spielt. Der Vertrag der Ampelkoalitionäre vom 24. November (hier von uns festgehalten) hatte dies noch kategorisch ausgeschlossen. Wir dürfen gespannt sein, wieviel Reife und Lernfähigkeit diese Regierung an den Tag legen wird. Jedenfalls ist davon auszugehen, dass Kernkraft weiterhin Schlagzeilen liefert.