Kipppunkte in den Ansichten zur Kernkraft

Deutliche Hinweise auf die Bedeutung der Kernkraft für die klima- und umweltverträgliche, versorgungssichere sowie bezahlbare Energieversorgung – dem Zieldreieck der Energiepolitik eines Industrielandes -, hat gerade der Krieg in der Ukraine gegeben. Der Wunsch, das ideologiebehaftete „Atomkraft? Nein Danke“ neu zu überdenken und zu diskutieren, wird in der Gesellschaft immer stärker spürbar. Eine Voraussetzung dafür ist, die lange getragenen Scheuklappen abzulegen und in einen offenen, faktenorientierten Diskurs einzutreten. Und vor allem auch die bislang gepflegten „Feindbilder“ und das zu diesem Thema übliche Schubladendenken abzulegen. Einen interessanten Versuch dazu hat die FAZ unternommen, indem sie gerade Menschen mit unterschiedlichen Ansichten zur Kernkraft ins Gespräch brachte.

Die öffentliche Meinung kippt!

Deutschland spricht

FAZ-Leserdebatte als Vorbild

Faz-net vom 25.10.2022 (hinter Schranke): „Die Welt ist seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine für viele Menschen … nicht mehr dieselbe. Die diesjährige Leserdebattenaktion ‚Deutschland spricht‘ zeichnet ein eindrucksvolles Stimmungsbild.“ Unter anderem zur Frage, ob die Laufzeiten für Atomkraftwerke (AKW) verlängert werden sollten.

„6197 Menschen haben sich im vergangenen halben Jahr diese und noch einige weitere Fragen für die Debattenaktion … gestellt. Sie haben fremde Menschen getroffen, die eine andere Meinung vertreten als sie selbst. Zusammengeführt hat sie ein Algorithmus, der weder an ihrer Herkunft, ihrem Alter oder ihrem Geschlecht interessiert war. Allein der Dissens entschied, wer zum Streitgespräch zusammentreffen sollte.“

Abgesehen vom möglichen Rechenfehler bezüglich der Gesamtaussage (51,3 oder 51,0/49,0 oder 48,7 %) zeigen die Ergebnisse – bis auf die eindeutig ablehende Haltung der befragten Frauen -, wie nah der Kipppunkt jeweils ist. Unterstellt man die bislang in der Thematik gepflogene einseitige Berichterstattung zugunsten des Atomausstiegs, dann wird bei einem (oben angenommenen) offenen, faktenorientierten Diskurs am Ende des Tages in der Summe eine deutliche Befürwortung der Kernkraftnutzung wahrscheinlich. Dass sich die Parteien, hier allen voran die Grünen, deren Wurzel, ja Nukleus, die Anti-Atomkraft-Bewegung in den 1970er Jahren war, besonders damit schwertun, versteht sich von selbst. Auch auf die CDU, die nach der Wende in 2010 nur ein dreiviertel Jahr später erneut umkehrte – mit Kanzlerin Merkel im Innern des sich um 180 Grad drehenden Kreisels – trifft dies zu.

Mit vielen Leser-Kommentaren zurück in der rauen Wirklichkeit

Jasper von Altenbockum bringt nur zwei Tage später am 27.10.2022 auf faz-net mit seinem leicht provokativen Kommentar, selbst in der überwiegend seriösen FAZ-Leserschaft, die „Volksseele“ zum Kochen. Dabei plädiert er lediglich dafür, zusätzliche Wege einzuschlagen, sprich „… Speicherung von Kohlendioxid; Kernkraft in alter und neuer Form; Innovationen auf der Basis nicht nur von Wasserstoff oder Batteriezellen.“

Ein Leser von annähernd 250, Dr. J. Thomsen, bringt es auf den Punkt: „Auf der Basis von Physik, Fakten und konkreten Konzepten liesse sich wunderbar über den besten Weg streiten. So sollte es in einem wissenschaftsgeprägten Land eigentlich sein.“ Genau an diesen Voraussetzungen aber fehle es bei uns. … „Die Schulen und die Medien tun ein Übriges. Und so kommt es, dass sich junge Leute irgendwo festkleben, ohne wirkliche eigene Konzepte. Es ist erschreckend, dass niemand in den Medien die Frage nach genau diesen Konzepten an Neubauer, Reemtsma & Co stellt.“

Mutmachende Faktoren

Stuttgarter Erklärung

Den Startpunkt der online-Petition zur „Stuttgarter Erklärung“ bildete eine Konferenz in der baden-württembergischen Landeshauptstadt im Juli diesen Jahres – von FOKUS-online am 29.7.2022 beschrieben und – zumindest was einzelne Personen anbelangt – etwas unausgegoren bewertet. Bei dieser wurde aus „Einzelkämpfern“ ein 19-köpfiges „Team“ aus Professorinnen und Professoren geformt, das die Petition auf den Weg brachte. Hauptinitiator ist André Thess, Direktor des Instituts für Technische Thermodynamik vom Deutschen Zentrum für Luft und Raumfahrt und zugleich Inhaber des Lehrstuhls für Energiespeicherung an der Universität Stuttgart. 

Die Petition 136760 hat in der sogenannten Mitzeichnungsfrist das Quorum von den 50.000 notwendigen Unterschriften erreicht. Genau waren es 58.477 Unterschriften online einschließlich 6 offline-Mitzeichnern. Folglich muss nun die Forderung der Petition, die Rücknahme des deutschen Atomausstiegs, im Bundestag in Berlin auch behandelt werden.

Berührungsängste hat ganz offensichtlich immer noch die CDU in Baden-Württemberg. Beim Landesparteitag Mitte Oktober in Villingen-Schwenningen ist eigenartigerweise die „Stuttgarter Erklärung“ überhaupt nicht zur Sprache gekommen. Vermutlich diszipliniert der grüne Landesvater die schwarzen Kollegen und Kolleginnen. Vielleicht kann man ja in absehbarer Zukunft wieder stolz darauf sein.

Wirtschaftsweise Veronika Grimm

Prof. Dr. Veronika Grimm, seit 2020 Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, hat in faz-net am 6.9.2022 klar ihre Ansicht zu AKWs artikuliert:

„Bei den drei noch laufenden Atomkraftwerken sollte man über eine Laufzeitverlängerung von etwa fünf Jahren nachdenken. Auch sollte geprüft werden, ob die Kernkraftwerke reaktivierbar sind, die kürzlich erst stillgelegt wurden. So könnte ein Beitrag geleistet werden, dass die Preise im Rahmen bleiben und die Versorgung stets gewährleistet ist.“

Markus Söders CSU

Die CSU beweist beim anstehenden Parteitag den Schulterschluß mit der Schwesterpartei CDU. Im faz-net Newsletter vom 28.10.2022 wie folgt beschrieben. „Die Entscheidung der Regierung, die Kernkraftwerke nur bis April 2023 laufen zu lassen, sei ‚ein durchsichtiger ideologischer Kompromiss zur Rettung der zerstrittenen linksliberalen Koalition‘ und eine ‚dramatische Fehlentscheidung für unser Land und den Klimaschutz.'“ Söders heutige Grundsatz- und die Abschlussrede von Friedrich Merz signalisieren Einigkeit. „Das zerrüttete Verhältnis der CSU-Spitze zu Angela Merkel oder Armin Laschet ist Geschichte, Söder und Merz arbeiten ohne nach außen sichtbare Reibungen zusammen.“

Greta Thunberg

Selbst Greta hält das Abschalten unserer AKWs für einen Fehler – siehe faz-net vom 11.10.2022 mit Hinweis auf den Talk mit Sandra Maischberger heute im Ersten (von uns hier mit Nachtrag vom 12.10.2022 bereits dokumentiert).

Das Klimawandel-Buch

Mit Unterstützung von Wissenschaftlern hat die 19 Jahre alte Schwedin Greta ganz aktuell „Das Klima-Buch„* – wie im faz-net Newsletter vom 27.10.2022 berichtet wird – geschrieben. Wissenschaftsredakteur Joachim Müller-Jung hat die 512 Seiten des vom S. Fischer Verlag in Frankfurt am Main herausgegebenen Buches bereits gelesen und schreibt: „Die öffentlich mittlerweile von radikaleren Kräften abgelöste Gallionsfigur des globalen Klima-Aktivismus spielt die Karte der Aufklärung, und das mit voller Wucht. Als Herausgeberin und Mitautorin erzählt sie von eigenen Erfahrungen im Kampf gegen klimapolitischen Starrsinn und Greenwashing“.

An die Front der „Weltverbesserer“ schicke sie die der Aufklärung verpflichteten Wissenschaftler – mehr als hundert angesehene Experten aus den unterschiedlichsten Fächern kommen zu Wort. „Kein Panikbuch, für sie eher ein moralischer Aufschrei der leisen Art: viel Wissen und nüchterne Fakten mit dem wenig überraschenden Fazit: Ein bisschen mehr oder ein bisschen weniger Transformation kann es kaum geben. Der fossile Weltbetrieb ist das Auslaufmodell“. So Müller-Jung.

Und hier wird es wieder spitzfindig!

Und sie bewegt sich doch! Die Erde sowieso – im Sinne Galileo Galileis -, aber auch die Ansichten zur Kernkraft sind im Fluß. Wenn alle ihre Einsichten und Überzeugungen zur Disposition stellen und darüber miteinander sprechen würden, dann wären wir in dieser existenziellen Frage schon einen wesentlichen Schritt weiter.

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Eine Antwort

  1. Die Argumentation „Pro Kernkraft“ impliziert ja zunächst einmal die grundsätzliche Entscheidung für das Design, die Konzeption und die Strukturen eines stark zentralisierten Energieversorgungssystems mit den damit verbundenen, nicht unerheblichen und bis heute immer noch schwer zu kalkulierenden Groß-Risiken! Eine solche Positionierung nimmt in Kauf, dass es sich in diesem Falle um eine schwer rückholbare Systementscheidung handelt, die prinzipiell mit sehr hohen „Ewigkeitskosten“ und im Falle der Abkehr mit „sunk costs“ belastet ist.

    Unter Berücksichtigung der nach wie vor ungelösten Probleme sowie der ungeklärten Fragen der „sicheren Endlagerung“ strahlender Reststoffe, die Mensch und Natur in unabsehbare Zukunft hinein in höchst gefährlicher Weise schädigen, ist m.E. eine solche Entscheidung unter ethischen Gesichtspunkten, jedoch auch wirtschaftlichen Aspekten als zumindest fragwürdig einzustufen. Besonders dann, wenn es mit einem Mindestmaß an Anstrengungsbereitschaft der heutigen Generationen möglich ist, ein Energieversorgungsystem zu konzipieren und zu realisieren, welches diese gravierenden und höchst gefährlichen Aspekte nicht aufweist!

    Und geradezu verwerflich zu nennen ist die Tatsache, dass diese Anstrengungen jedoch aus spezifischen wirtschaftlichen Interessen heraus und den, solchen Interessen dienenden politisch-ideologischen Positionen, in den vergangenen Jahrzehnten unterbunden worden sind!

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