Leute besinnt Euch!

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Die Realität holt uns ein. Wir brauchten eine richtige „Sternstunde“ im Sinne von Stefan Zweigs „Sternstunden der Menschheit“. Genaugenommen hätte es eine ganze/volle „Sternwoche“ sein müssen. Zwar ist die Entwicklung in der gesellschaftlichen Einschätzung der Kernkraft – wie wir mit unseren Kipppunkte-Beiträgen, hier zuletzt, belegen konnten – in Gang gekommen. Aber dies hat in unserer Parteienlandschaft nicht den notwendigen Widerhall gefunden. Leute besinnt Euch – ist man versucht, schon fast resignierend zu rufen, sonst ist es definitiv zu spät.

Enorm viel in Bewegung

Enorm viel Bewegung

Just in der Woche, in der im Bundestag über die geplante Laufzeitverlängerung der verbliebenen deutschen Kernkraftwerke diskutiert wird, empfiehlt auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) – die fünf Wirtschaftsweisen – zur Bewältigung der Energiekrise eine längere Laufzeit. „Umso wichtiger ist es aus Sicht des Gremiums, die Lage an den Energiemärkten weiter zu entspannen. Die Beschaffung von Flüssiggas müsse ausgeweitet, der Ausbau der erneuerbaren Energien ambitioniert vorangetrieben … – und die geplante Stilllegung der Kernkraftwerke verschoben werden.“ Dies könne in der Ampel den Streit zwischen Grünen und FDP neu entfachen, den Kanzler Olaf Scholz mittels seiner Richtlinienkompetenz gerade erst beendet hatte. So faz-net vom 9.11.2022 (hinter Schranke).

Der Blick eines Historikers

In unserem Beitrag „Pfad zur Kernkraft bleibt intakt“ vom 11.7.2022 – hier zu finden – hatte der Umwelthistoriker Prof. Frank Uekötter von der Universität Birmingham wie folgt argumentiert: “Für ein hohes Sicherheitsniveau in der Nukleartechnik braucht es unbedingt eine kritische Öffentlichkeit, Expertenwissen außerhalb der Atomwirtschaft. In Deutschland hatte dies eine sehr stark disziplinierende Wirkung. Heute gibt es noch Atomfachleute, die dieser Technik kritisch gegenüberstehen, in 20 Jahren aber vielleicht nicht mehr. Es werden aber auch dann in Europa noch Atomkraftwerke laufen, wenn auch voraussichtlich nicht mehr in Deutschland. Deshalb brauchen wir weiter eine Gegenexpertise. Die zu erhalten, sehe ich als große Herausforderung.”

Nun hat er im Juni ein Buch mit dem Titel „Atomare Demokratie. Eine Geschichte der Kernenergie in Deutschland„* (Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2022, 380 Seiten für 29,90 Euro) herausgebracht, das in faz-net am 17.10.2022 besprochen wurde. „Kernspaltung der deutschen Gesellschaft“ hat Justus Bender seinen Artikel zum Buch überschrieben – und damit voll ins Schwarze getroffen. In einem selten gekannten Ausmaß besitzt dieses Thema das Potenzial zur Spaltung unserer Gesellschaft, insbesondere auch dadurch, wie es von der Ampel-Koalition behandelt wird.

Die heutigen Strom-Konsumenten haben es dabei mit „Aktivisten“ zu tun, deren Atomprotest seit den 1980-Jahren nicht politisches Anliegen, sondern fester Teil einer nicht verhandelbaren Identität ist, wie es Frank Uekötter sieht. „Die von Uekötter hochgelobte bundesrepublikanische Verhandlungsdemokratie könnte also vor einer Phase großer Sprachlosigkeit und Unversöhnlichkeit stehen, wobei es diesmal die Atomgegner wären, die regieren, und die Atombefürworter, die protestieren.“ Schlußfolgert richtigerweise Redakteur Justus Bender.

Der ganze Sitzungsreigen

Trauerstunde – Sitzung des Petitionsausschusses vom 9.11.2022

Nachdem das souveräne Erreichen des Quorums der online-Petition zur “Stuttgarter Erklärung” Mut machte, wurde letzten Mittwoch, von 8:00 bis 9:05, bei der Behandlung im Petitionsausschuss daraus eine regelrechte „Trauerstunde“ (als 27. Sitzung im Parlamentsfernsehen nachzuverfolgen). Die Fragen und Antworten im strengen Reglement, zunächst je zwei Minuten, dann gegen Ende auf eine Minute begrenzt. Ins Auge fällt, dass Grüne gerne die beiden Grünen Parlamentarischen Staatssekretäre fragen, die zudem unter den Augen der SPD-Ausschussvorsitzenden etwas länger sprechen dürfen. Dadurch geht wertvolle Zeit für die Diskussion verloren. Der Petent (André Thess) und seine „Begleiterin“ (Anna Veronika Wendland) argumentieren evidenz-basiert, hinterfragen beispielsweise den Begriff „Hochrisikotechnologie“, der aber überwintert locker in der Überschrift und im Vokabular.

Selbst das Zuschauen frustriert. Im Grunde genommen ignorieren die Vertreter der Ampel-Koalition – solange es nur geht – den klar zum Ausdruck gebrachten Willen der über 58.000 Mitunterzeichner. Einen Erkenntnisgewinn bringt es dennoch: es wird vor Augen geführt, wie man sich neue Erkenntnisse vom Leib hält, um weitermachen zu können, wie bisher. Wirksam, aber in jeder Hinsicht desaströs.

Auf TE vom 9.11.2022 bilanziert Mario Thurnes das Ganze folgendermaßen: „So endet die Sitzung des Petitionsausschusses für die Wissenschaftler ernüchternd: Die rot-grün-gelbe Mauer in Sachen Atomausstieg steht. Mit ihren Argumenten dringen sie nicht durch. Die Petition wird, so wie die Sitzung zeigt, im Sande verlaufen. Doch für eines bleibt sie gut: Was immer auch in Sachen Versorgungssicherheit und CO2-Ausstoß noch passiert, kein Vertreter der Ampel kann danach behaupten, die Informationen hätten nicht vorgelegen.“

Pingpongspiel – Sitzung des einschlägigen Ausschusses für nukleare Sicherheit

Ebenfalls am Mittwoch, von 11:00 bis 12:45 Uhr, tagte der Ausschuss für nukleare Sicherheit unter seinem Grünen Vorsitzenden (auch im Parlamentsfernsehen wie oben nachzuverfolgen; gleichermaßen die Lesungen im Plenum und die sauber präsentierten Abstimmungsergebnisse). In drei eng getakteten Fragerunden – aufbauend auf den Eingangsstatements von neun Expertinnen und Experten zu den vorgelegten Gesetzesentwürfen – war wiederum ein bestimmtes Muster zu erkennen.

(Ab)gefragt wurde in der Regel diejenige Expertise, die dem eigenen Standpunkt entsprach. Dabei waren fünf dem Ampelvorschlag zur Änderung des Atomgesetzes (Ausstieg zum 15. April 2023; Streckbetrieb) und vier eher dem CDU/CSU-Vorschlag (Ausstieg Ende 2024; Beschaffung neuer Brennstäbe) zuordenbar. Am Beispiel von Prof. Claudia Kemfert, Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung (DIW), hieß dies, dass sie sieben Fragen und damit die meisten (neben den Ampel-Fragen auch eine der Linken) zu beantworten hatte. Auch hier hatten die Vertreterinnen und Vertreter der sechs Fraktionen für eine inhaltliche Diskussion – das enge Zeitdiktat tat ein übriges – kaum Spielraum.

Spiegelfechtereien – Erste Lesung zur Änderung Atomgesetzes am 9.11.2022 im Bundestag

Um 13:00 Uhr im nahtlosen Übergang dann die erste Lesung im Plenum des Bundestages. Wiederum mit einer engen Zeitvorgabe für diesen Tagesordnungspunkt, die mit rund 50 Minuten auch eingehalten wird. „Es bleibt beim Atomausstieg. Punkt.“ So die Ministerin für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz vor einer überschaubaren Anzahl belegter Sitze. Danach noch acht weitere Redebeiträge. Engagiert, manchmal mit schneller Zunge und hoher Frequenz – begleitet vom geduldigen Beifall aus der jeweiligen Fraktion. Dabei auch Platitüden wiederholend. „Entscheidung unumgänglich“, im Raume schwebt wohl immer noch das Merkelsche „alternativlos“. Ganz selten nur der Blick über den Tellerrand, das heißt die Überlegung, wie unsere Entscheidungen sich auf die Menschen in anderen, ärmeren Ländern auswirken. Nachvollziehbar die strikte Ablehung von Zwischenfragen.

Proformaveranstaltung – Zweite und dritte Lesung am 11.11.2022

Am Freitag – heute – dann von 9:00 bis 10:30 Uhr der „krönende Abschluß“ mit den beiden Lesungen und den namentlichen Abstimmungen. Dabei kommen 19 Redebeiträge zusammen, im Unterschied zur ersten Lesung weit stärker von Emotionen getragen. Der Grüne Vorsitzende des Ausschusses für nukleare Sicherheit erinnert an Tschernobyl und was der dortige Nuklearunfall für seine Familie mit der einjährigen Tocher damals an Einschränkungen gebracht hat. Ein SPD-Mann kündigt an, in 155 Tagen, wenn es soweit ist – der Ausstieg unwiderruflich, endgültig geschafft – mit Sekt darauf anstossen zu wollen. Die FDP-Dame wagt noch das Schiefergas zu erwähnen, dies sei der Weg, den diese Koalition geht.

Von einem CDU-Mann bekommt die Ampel vorgehalten, dass sie in höchstem Maße unseriös arbeite, trickse und täusche, eine ergebnisoffene Prüfung zusage, um sie dann nur vorzugaukeln. Eine Bemerkung verdient noch festgehalten zu werden. Sie stammt von einem Mitglied der Grünen im Ausschuss für nukleare Sicherheit. Er erinnert daran, wie er nach Tschernobyl als Soldat Pilze einsammeln mußte. Für seine Partei sei klar, dass Mitte April 2023 die Atomkraftwerke abgeschaltet und unverzüglich rückgebaut werden. „Herr Bundeskanzler, auch Sie stehen hier im Wort.“ Dabei war dieser gar nicht anwesend.

Insgesamt wenig Neues, aber mit viel Selbstvertrauen überzeugend vorgetragen.

Und das Ende vom Lied

Ein klares Ergebnis, das sich schon während der Sitzung des Petitionsausschusses abzeichnete. Die namentliche Abstimmung zog sich etwas hin, mußte in einem Fall sogar wiederholt werden. Am Ende fiel der CDU/CSU-Vorschlag mit 242 Ja- zu 413 Nein-Stimmen (bei keiner Enthaltung und 81 nicht abgegebenen Stimmen) durch. Der Vorschlag der Bundesregierung wurde hingegen mit 375 Ja- zu 216 Nein-Stimmen (bei 70 Enthaltungen und 75 nicht abgegebenen Stimmen) angenommen. Während des, von einem großen Kommen und Gehen begleiteten Wahlvorgangs, wurde es 11 Uhr 11. Der erfahrene Bundestagsvizepräsident aus der FDP mahnte dazu, in den Saal zurückzukehren und doch ernsthaft zu bleiben.

Gewidmet einem guten Freund

Roland Tichy feiert heute den 67. Geburtstag. Sein gesunder Menschenverstand, seine beruflichen Stationen erfüllt mit journalistischem Berufsethos und ausgeprägter Begabung sowie sein beständiger Mut, machen seine Arbeit heute so wertvoll. In einer Zeit, in der die herrschende immer mehr zur vorherrschenden Meinung mutiert, bildet er ein respektables Gegengewicht. Gegen den Strom schwimmen, den Mund aufmachen, die Dinge, die im Argen liegen, beim Namen nennen – das sind seine Stärken. Und das alles im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft Ludwig Erhards. Was den Mut und die Standhaftigkeit anlangt hebt er sich – diese Bemerkung sei mir als CDU-Mann erlaubt – wohltuend von seinem gleichaltrigen Mitgeburtstagskind Friedrich Merz ab.

Und hier geht es weiter mit Spitzfindigkeiten.

#PreppoKompakt

Bertrand Russell wird folgende Aussage zugeordnet. „Die Hauptursache des Problems ist, dass in der modernen Welt die Dummen selbstsicher und die Intelligenten voller Zweifel sind!“ Vermutlich trifft das nicht immer zu, manchmal – insbesondere wenn der Herdentrieb greift – aber schon.

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