7 minutes
Spitz oder Spitze sind in aller Regel pointierte Aussagen zum Zeitgeschehen. Dies kann, muss aber nicht die Politik betreffen. Es kann auf die Gegenwart oder auch auf die Vergangenheit gemünzt sein. Spitz ist eine Aussage dann, wenn sie sticht, der betreffenden Person oder Personengruppe wehtut, spitze, wenn sie ausgezeichnet formuliert ist und im Idealfall zudem die Wahrheit abbildet. Fi/ündig, wenn der beschriebene Umstand nicht ganz offensichtlich, also erst zu ergründen ist. Und -keit lässt auf unterschiedliche menschliche Eigenheiten/-schaften schließen, wie beispielsweise Eitelkeit, Heiterkeit, Überheblichkeit oder, oder. Alles zusammengenommen eine echte Spitzfindigkeit. In unserer Kolumne ‚Spitz-findig-keit‘ zitieren wir in lockerer Folge jeweils zwei oder drei Aussagen und verschonen dabei auch nicht klassische Denkerinnen und Denker.
Um Denkanstöße zu geben, die Freude am Formulieren zu wecken – nichtzuletzt auch um dem Humor in unserer doch etwas trostloseren Zeit wieder mehr Geltung zu verschaffen. Erhöht das Wohlbefinden. Packen wir es an! Ich sage nicht, wir schaffen das. Aber wir probieren es auf jeden Fall!
Vorbemerkung
Es gibt nach Immanuel Kant auch eine falsche Spitzfindigkeit, die wir uns hier allerdings nicht zu eigen machen wollen. Wer dem dennoch nachgehen möchte – Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren – kann dies hier gerne tun.
Heute freuen wir uns dafür nicht nur an den guten, von Immanuel Kant verheißenen Aussichten, die den hartgesottenen Karl Kraus sogar zu Tränen rührten. Sondern hören auch gebannt einem wunderbaren Sommernachtskonzert zu. Dazu passt dann noch ein lustiger Ausschnitt aus der Filmkomödie „Hurra, die Schule brennt!“, allerdings vor ernstem Hintergrund.
1. Spitz-findig-keit
Karl Kraus aus Wien im Jahre 1920 „Zum ewigen Frieden“, dem Alterswerk des Königsbergers Immanuel Kant aus 1795/96:
Kant postuliert: „… erheitert sich doch das Gemüth durch die Aussicht, es könne künftig besser werden; und zwar mit uneigennützigem Wohlwollen …“. Kraus entgegnet: „… Weh dem, den der Entsager nicht beirrt! Weh, wenn im deutschen Wahn die Welt verschlief das letzte deutsche Wunder, das sie rief! Bis an die Sterne reichte einst ein Zwerg. Sein irdisch Reich war nur ein Königsberg.“
In der #163 hatten wir den Kant’schen Ansatz schon allgemein erörtert. Zur Vertiefung des Alterswerks siehe Wikipedia und zur bahnbrechenden Philosophie des nur 1,57 m großen Denkers, die aktuelle, knapp gefasste DWDoku vom 22.4.2024 (seinem 300. Geburtstag). Das ganze Kraus’sche Gedicht ist auf Wikisource nachzulesen.
2. Spitz-findig-keit
Mit dem DerStandard vom 8.6.2024 bleiben wir in Wien und geben uns bei Prachtwetter einfach der Ohrwurmvielfalt hin. „Seit bereits 20 Jahren laden die Wiener Philharmoniker vor der Traumkulisse von Schloss Schönbrunn zu einem vielseitigen Open-Air-Konzert ein. Die Idee, Klassik für alle zu ermöglichen und damit ein Geschenk an alle Musikliebhaber zu machen, prägt bis heute die Veranstaltung.“ Dementsprechend ist der Eintritt frei, rund 55.000 Zuhörerinnen und Zuhörer haben in diesem Jahr davon Gebrauch gemacht.
Nach 2022 dirigierte der Lette Andris Nelsons zum zweiten Mal das Sommernachtskonzert, Solistin ist die Norwegerin Lise Davidsen, die in Schönbrunn ihr Debüt gab. Die 83-minütige Aufzeichnung – während der das Tageslicht schwindet – ist auf 3sat bis zum 7.12.2024 verfügbar. Meine Ohrwurm-Favoriten sind: die „Moldau“ von Bedřich Smetana, der „Walzer Nr. 2“ von Dmitri Schostakowitsch, die „Csárdásfürstin“ von Emmerich Kálmán, und als Zugabe der Walzer „Wiener Blut“ von Johann Strauss Sohn.
3. Spitz-findig-keit
Die NZZ vom 8.6.2024 titelt „Ausländerfeinde im Schlossinternat? Wie eine berühmte deutsche Schule ins Visier einer überdrehten Öffentlichkeit geriet.“ Auf einer Party des im Landkreis Rendsburg-Eckernförde in Schleswig-Holstein gelegenen Internats Louisenlund hatten einige sechzehn- und siebzehnjährige Schüler „Ausländer raus!“ gesungen, „… so wie die Feiernden von Sylt. Erst kam der Ansturm der Medien, jetzt ermittelt der Staatsschutz.“ Der Berliner NZZ-Redakteurin Susanne Gaschke war dies ebenfalls einen Besuch und das Gespräch mit dem Schulleiter Peter Rösner wert.
„Dass das ’selten dumme‘ Verhalten der Jugendlichen der Aufarbeitung und pädagogischen Korrektur bedarf, ist für Rösner selbstverständlich.“ Es vertrage sich nicht mit den Zielen und der Praxis der 1949 gegründeten Stiftung Louisenlund, die sich die „Erziehung von jungen Menschen auf sittlich-geistiger Grundlage zu wahrheitsliebenden, weltoffenen, furchtlosen, in sich ruhenden, Masseninstinkten nicht unterworfenen, der Gemeinschaft bewusst und freiwillig Dienenden“ auf die Fahnen geschrieben habe. Im Schulalltag umgesetzt werde dies unter anderem durch ein debattierfreudiges Schülerparlament, eine lebendige Schülervertretung, Patenschaften älterer für jüngere Schüler sowie die obligatorische Mitarbeit beim technischen Hilfswerk oder der freiwilligen Feuerwehr.
Stoff für eine nach dem Sylt-Video überdrehte Öffentlichkeit
Eine anwesende Erzieherin brach die Party nach dem Vorfall ab und informierte am gleichen Abend über einen nur Lehrern und Betreuern zugänglichen E-Mail-Verteiler ihre Kollegen. Dabei wurde ein Screenshot offensichtlich zu verschiedenen deutschen Medien durchgestellt. „Das bedeutet leider, dass jemand vom pädagogischen Personal dieser Schule es für richtig gehalten hat, den Vorfall öffentlich zu machen“, so Peter Rösner. „Er habe kein Verständnis dafür, dass man minderjährige Schutzbefohlene auf diese Weise dem Risiko eines Internetprangers und der Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte aussetze.“
Für Susanne Gaschke zeigt die mediale Aufregung um Louisenlund, „… was für eine gewaltige Projektionsfläche ein ‚Reichen‘-Internat sein kann. Wenn man den Schülern hier unbedingt eine Vorhaltung machen will, dann äusserstenfalls die, dass ihnen der grosse Unterschied zu Ausstattung und Möglichkeiten staatlicher Schulen vielleicht nicht immer bewusst ist.“
Alles schon mal dagewesen
In „Hurra, die Schule brennt!“ aus dem Jahre 1969 beobachtet ein Lehrer „… eine unglaubliche Entgleisung“ (auf YouTube knapp 2 1/2 Minuten lang) und stellt dies brühwarm dem Schulrektor/leiter durch. Wir können uns – wie schon in der Spitzfindigkeit zuvor – darin den herrlichen Ohrwurm von Peter Alexander „Wie Böhmen noch bei Österreich war“ anhören, ja sogar ansehen.
Und weiter geht es
DerStandard vom 10.6.2024 berichtet unter Bezugnahme auf die Tiroler Tageszeitung, dass auf einer Party der Landjugend Uderns im Zillertal am 7. Juni zu dem Lied „L’amour toujours“ von Gigi D’Agostino ausländerfeindliche Parolen gesungen wurden. So „… skandierte der halbe Saal ‚Deutschland den Deutschen‘ und ‚Ausländer raus‘. Tirols Landesobmann Christoph Pirnbacher bedauerte den Vorfall …“. Innerhalb kurzer Zeit sind über 1000 Kommentare von Leserinnen und Lesern zusammengekommen.
Einige davon, höchstwahrscheinlich nicht alle, echt lesenswert. Nur ein Beispiel, ohne Namensnennung: „Plötzlich tun viele so, als gebe es diesen speziellen Text erst seit Sylt. … Umso mehr Artikel, umso mehr Nachahmer! Protest/Rebellion, Alkohol und a bissl d. pp… im Schädl. Daß man hier die in der Mehrzahl gewalttätige Neonazis vor sich hat, glaube ich mal nicht. Man sollte die Kirche im Dorf lassen und dem Phänomen L’amour toujours sachlich auf den Grund gehen. Das ist eher kein Fall für den Verfassungsschutz und Extremismusexperten, sondern für Medienforscher und Soziologen.“
Und auch hier geht es weiter – sogar anständig bergauf.
#PreppoKompakt
Der echte Schulleiter (re)agierte ausgesprochen vernünftig und besonnen. Er widerstand dem medialen Ansturm und machte sich erst schlau. Zur Schärfung des Problembewußtseins empfahl er danach mit den Schülerinnen und Schülern gemeinsam den Film „Die Welle“ anzusehen. Als eine sehr ernstzunehmende Aufgabe verbleibt ihm noch, dem „Leck“ beim pädagogischen Personal nachzugehen.