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Verreisen – Literatur machts möglich

13 minutes

Verreisen? Überall rekordhohe Fallzahlen, ob in Frankreich, Spanien oder sogar Portugal. Entsprechend werden wieder kräftig Reisebeschränkungen, einschließlich Quarantäneregeln, ausgerufen, tausende von Flügen weltweit gestrichen. Omikron macht es möglich/notwenig! Alles zusammengenommen drängen sich da Bücher auf, die einen – ohne sich von der Stelle zu bewegen – mit auf die Reise nehmen, beispielsweise eine sehr beschwerliche nach Elephanta. An die Hand nehmen uns dabei – reiner Zufall – drei Autorinnen mit ihren in 2020 und 2021 erschienenen Büchern. Verreisen wir also einfach. Sogar in die Vergangenheit, auf gehts mit ein paar Appetithappen.

Verreisen - Literatur machts möglich

Unsere Ziele zum Verreisen

Elephanta, Insel vor Bombay – Nummer eins

Christine Wunnicke, Die Dame mit der bemalten Hand*, Berenberg Verlag, Berlin 2020. 166 Seiten in 12 Kapiteln für 22 €. Die Autorin, Jahrgang 1966, lebt in München. Sie hat eine sehr schöne Ausdruckweise, ja die feine Sprache einer geborenen Erzählerin.

Die Erzählung beginnt im Jahre 1764/nach islamischer Zählung 1177. Hauptpersonen sind der Konstrukteur Musa al-Lahuri aus Jaipur und der Mathematiker Carsten Niebuhr aus dem Bremischen. Unabhängig voneinander gestrandet auf Elephanta, einer kleinen Insel vor Bombay, dem heutigen Mumbai. Wobei Niebuhr von Göttingen aus im Team zu sechst gestartet, der letzte Überlebende dieser Expedition war. Seine Mitreisenden hatte das Fleckfieber – auch Flecktyphus oder Läusefieber genannt – nach und nach hinweggerafft. Und Musa befand sich auf der Reise nach Mekka.

Die historischen Höhlen auf Elephanta dienten laut Wikipedia hauptsächlich der Verehrung Shivas, einem der Hauptgötter des Hinduismus, nach Christenum und Islam drittgrößte Religionsgruppe der Erde. Die Höhlen gehören seit 1987 übrigens zum UNESCO-Weltkulturerbe der Menschheit.

Astronomen unter sich

Musa und Niebuhr, die in einer dieser Höhlen aufeinandertreffen, sind beide astronomisch bewandert. Sie waren mit einem Astrolabium in der Lage, den nächtlichen Himmel zu beobachten und Sternpositionen zu berechnen. Darunter auch die von einem Astronomen aus Jaipur als “Dame-mit-der-bemalten-Hand” umschriebene Kassiopeia. Dieser – Guru Jagannatha, Hauptastronom des alten Fürsten von Jaipur -, hatte großen Einfluss auf Musa. Viele Sprüche prägten dessen Einstellung zum Leben, so zum Beispiel „Ein pünktlicher Bauer, ein Esel im Joch.“

Paul Jandl bringt es in der NZZ vom 5.1.2021 (hinter Schranke) auf den Punkt: „Keine zwei Menschen sprechen die gleiche Sprache. Zwischen dem Deutschen, … dem Arabischen und allen möglichen indischen Dialekten tun sich Abgründe auf, die oft erst durch skurrile Verständigungsversuche überbrückt werden können.“ Und auch „… Sinn oder Unsinn: alles nur eine Frage der Lesart. Wie das Sternbild der Kassiopeia. Für Christine Wunnicke ist die Suche nach Erkenntnis eine Reise mit doppeltem Ausgang. Ein Spiel mit Möglichkeiten. Ihre am Ende der Insel doch noch entkommenden Figuren scheitern, aber das ist auf erhabene Weise gar nicht tragisch.“

Siebenbürgen – Nummer zwei

Iris Wolff, Die Unschärfe der Welt*, Klett-Cotta, Stuttgart 2020. Sieben Kapitel auf 215 Seiten für 20 €. Die Autorin wurde 1977 in Hermannstadt geboren. Angenehme Erzählweise mit Spannungsmomenten, tragischen Elementen und leicht konstruiert wirkenden Zufällen. Die Gliederung hilft beim Nachvollziehen des Beziehungsgeflechts. Unschärfe der Welt – der Titel wird zu Beginn des letzten Kapitels erläutert. Ein ganz in rot gehaltenes, fehlerfreies Buch.

Hauptpersonen sind der evangelische Pfarrer Hannes und seine Angetraute Florentine sowie deren Sohn Samuel. Das Paar ist Mitte zwanzig, als er die erste Pfarrstelle in Siebenbürgen/Rumänien antritt. Viele kleinere Geschichten in längeren Zeiträumen sind über existierende Beziehungen zwischen Verwandten und Freunden fein miteinander verwoben.

(1) Karline, die Mutter von Hannes, und Johann sein Vater, haben den Enkelsohn Samuel zu Besuch. Dabei reflektieren sie das Erlebnis auf dem Passagierschiff „Transilvania“. Johann hatte ein platzsparendes Waschsystem für kleine Betriebe entwickelt, „… was viel bedeutete in einem Land, in dem mehr Schafe als Menschen lebten.“ Bei der Besichtigung des Schiffes im Hafen von Constanta kommt während eines heftigen Sturms, Hannes in der Kabine 177 zur Welt. Am Ende bückst Samuel aus – Karline findet ihn schließlich, wen wundert es, bei einer Schafherde wieder.

(2) Sana (auch Stana) – die Tochter von Florentines Freundin – badet in einer Blechwanne und Samuel überrascht sie dabei. Beide sind seit der Kindheit eng befreundet. Er half ihr beispielsweise dabei, Schwimmen zu lernen. Oder vermittelt Einsichten, wie: „Einem wild gewordenen Pferd siehst du nicht in die Augen, einem kampflustigen Hund dagegen schon …“ (S. 100). Es kommt also darauf an, die Pferde- von den Hundeaugen zu unterscheiden. Karline, Samuels Großmutter, besucht Sohn und Schwiegertochter und es wird aus diesem Anlass ein Fest gefeiert. Am Ende kommen sich Sana und Samuel – über den Umweg Kirschbaum – sehr nahe.

(3) Samuel und sein Freund Oz wollen dem Rumänien Ceausescus den Rücken kehren. Für Oz endet der erste Versuch mit Wohnungsdurchsuchung, Überwachung und Prügeln. Danach sieht er Gespenster/Drachen, riecht und hört etwas. Der zweite Versuch mit dem Flugzeug über die Grenze nach Ungarn gelingt. Nach kurzer Zwischenstation mit ersten Einkäufen und -drücken in Deutschland/West – „Weil es alles gab, konnte man sowohl durch Besitz als auch durch Verzicht zeigen, wer man war oder wer man sein wollte“ (S. 139) – landen sie auf einer Nordsee-Insel. Eine für Oz unglückliche Liebschaft beendet er dadurch, dass er sich dem wiederaufgetauchten Drachen im Meer auf den Rücken legt. Samuel hingegen bleibt Sana und dem Leben treu.

(4) Am Telefon hört Samuel von seiner Mutter „Komm nach Haus.“ Abenteuerliche Fahrt über Deutschland und Ungarn – und kurz vor Grenzübertritt die Nachricht von der Hinrichtung Ceausescus und seiner Frau. Das Wiedersehen mit Vater, Mutter und auch Sana, die ein kleines Mädchen an der Hand hält, Liv. Später lebt die Familie in einer baden-württembergischen Großstadt mit Schlossgarten, vermutlich Stuttgart. Erzählt wird noch die Geschichte mit dem Tretboot. Dabei spaziert die 3-jährige Liv einfach ins Wasser – und wird von ihrem Vater Samuel gerettet.

(5) Liv lernt viele Jahre später im Bistro um die Ecke Noah kennen, der mit Zeitverzug ihre große Liebe wird. Mit Anna, ihrer Freundin aus der Parallelklasse, und Malu, ihrer Kollegin von der Opern-Garderobe, kommen neue Personen ins Spiel. So auch die Casta Diva/Keusche Göttin mit der Arie aus der Oper „Norma“ von Vincenzo Bellini. Malu wollte unbedingt, dass Liv dies hört. Wir haben die Arie hier in unserer Spitzfindigkeit plaziert.

London und Accra – Nummer drei

Nana Oforiatta Ayim, Wir Gotteskinder*, München 2021, 268 Seiten einschl. Anhang und Glossar. 5 Teile mit 28 Kapiteln, erschienen im Penguin Verlag, 22 €. (Original „The God Child“, Bloomsbury, London 2019). Die Autorin ist in Deutschland geboren (zum Jahr keine Angaben; wohl in den 1980ern) und aufgewachsen.

Maya, die Protagonistin, trägt schwarze Hautfarbe. Der Roman ist in weiten Teilen autobiografisch, gibt die Sichtweise einer jungen Frau wieder. Als Debütroman insbesondere in den Teilen über afrikanische Geschichte, Kultur und Lebensweise sehr interessant zu lesen. Weiterhin fängt er den englischen Lebensstil und Bildungswesen gut ein. Zudem auch die Eindrücke von Bad Godesberg als Mayas (und Nanas) Geburtsort.

Schließlich der Link zu einem rund 6-minütigen Beitrag über Nana Oforiatta Ayim in der ARD-Sendung „ttt – titel, thesen, temperamente“ am 20.6.2021 (verfügbar bis 20.6.2022).

Erster Teil

„England … der Ort von dem wir träumten.“ Zugleich gibt es aber auch den Traum von der Heimkehr nach Abomosu, weil wir Löwen sind (Hic sunt leones). Mayas beste Freundin Christine bezweifelt, dass der Großvater König war. „Du lügst, sagte sie, du lügst.“ Was hatte die Mutter Maya über den aufgebahrten Leichnam erzählt: drumherum 43 Frauen und 103 Geschwister (S. 35f).

Überraschend erscheint Kojo, der Sohn des Bruders der Mutter. „Er werde jetzt bei uns wohnen, und ich solle ihn wie einen Bruder behandeln.“ (S. 46). Er besucht die gleiche Schule – „… zwei Braune, statt einer.“ Maja hält zunächst Abstand. „Und doch kroch seine Gegenwart in meine Einsamkeit.“ (S. 47). Maya stürzt vom Fahrrad und Kojo kümmert sich „brüderlich liebevoll“ um sie.

Zweiter Teil

Maja, ihre Mutter und Kojo kommen nach London, England. Zusammen besuchen sie Attobrah, der auserwählt war, „… unser nächster König zu sein.“ (S. 71). Attobrah, ein junger Mann mit Brille, mehr Buchhalter als König – und Christ, wie er mehrfach betonte. Kojo findet in der Wohnung ein Buch und lässt es mitgehen. Zuhause schläft Maya bei ihrer Mutter im Bett – und erwacht, „… als etwas Dunkles zu meiner Seite des Betts geflogen kam.“ (S. 75).

Maya sammelt erste Erfahrungen in ihrer neuen Schule, sie kommt gut an. Auf einer Feuertreppe lernt sie Lucinda kennen, die Treppe kracht kurz darauf zusammen. Bei Lucinda zuhause mit deren Freundinnen Josephine, die kämmt und viel lacht, Charlotte, die raucht, und Juliet, die von Jungen redet. Maya „… perfektionierte … die Schutzhülle ihrer Angewohnheiten“ (S. 95) und lernte viel. Dennoch, sagt sie „… war die Geschichte, die ich erzählte, nicht gut genug für das was wir planten. Ich hatte zu lernen, wie man Bilder mit Worten schafft.“ (S. 96).

Mayas Mutter erzählt, dass sie eines Tages als First Lady ganz in Weiß nach Ghana zurückkehren werde. Schon bei ihrer Geburt war dies so angezeigt worden. Die Vorbereitungen dazu laufen. Maya müsse weiter in der Schule in England bleiben, während Kojo nach Deutschland zurückkehrt. Eine Auseinandersetzung mit Lucinda in der Schule bestärkt Maya in ihrer Absicht, Kojo nachzufolgen.

Dritter Teil

Während die Mutter nach Ghana abreist, fahren Maja und Kojo nach Deutschland, wo sie in katholische Klosterschulen gesteckt werden. Mayas Geschichtslehrer lässt sie zusammen mit Zinaida und einer weiteren Mitschülerin, Goethes Schicksalsgöttinnen – Atropos, Lachesis, Klotho – spielen. „Er sprach zu uns über Goethes Idee einer Weltliteratur, in der alle Literaturen der Welt gleichwertig Seite an Seite standen.“ (S. 114, ebenso das nächste Zitat).

Maya folgert daraus für die Geschichte ihres Königreichs: „Jetzt war es an uns, an Kojo und mir, sie wiederherzustellen, Geschichten zu schaffen, die neben all den anderen Bestand hätten.“ Sie denkt dabei an das Marienkrankenhaus in Bad Godesberg – viel grelles Weiß – in dem sie – warme braune Haut, dunkelbraunes Haar, braun-rötlicher Mund – geboren wurde.

Am Samstag zieht sie mit Zinaida durch Geschäfte in den Hauptstraßen und lernt von ihr mit immer frecheren Methoden zu stehlen. Und Abends/Nachts zieht es sie trotz Angst quer durch die Stadt zu einem weißen Haus, wo im Untergeschoss Musik läuft und sich, neben der Freundin, auch viele Jungs aufhalten.

Maya und ihr Vater holen die mit Gold „behangene“ Mutter vom Flughafen und dann gemeinsam Kojo im Internat ab. Die Mutter sagt: „Keins meiner Kinder wird … in niederer Stellung arbeiten. Pack Deine Sachen.“ (S. 130). Kojo möchte nach Hause – und er meint damit Ghana.

Vierter Teil

Kojo und Maya sorgten dafür, dass man das Buch fand und sprachen dann nicht mehr darüber. Es handelte von mythischer Geschichte eines Königreichs, einer Nation mit glorreicher und weltbeherrschender Zukunft. Objekten gewidmet, die „… geraubt, verkauft worden oder verschwunden waren.“ (S. 136).

„Schwarze Barbiepuppe“ zum Studium zurück in London – dabei hatte Maya sich das Universitätsleben anders vorgestellt. Sie empfand es als ein Fließband hohler Vorspiegelungen – bis auch Zinaida dort auftauchte.

Zu Weihnachten macht sie sich mit einem Weihnachtsbaum für ihre Mutter auf nach Ghana. Auf der Fahrt nach Heathrow und im Flughafen zieht sie neugierige Blicke an. Maya flucht auf die „Glotzköpfe“. Mit Kojo geht Maya zur „Schwarzen Weihnacht“. Im Palast treffen sie auch den König. „Alles um ihn war golden: sein Brokattuch, seine Krone, und sein Schemel …“. (S. 173).

Maya fährt mit Kojo zu dessen Haus nach Kaba, seine Fahrweise ängstigt sie. Nachts erleidet Kojo eine Art Nervenzusammenbruch und bekommt im Krankenhaus Beruhigungsmittel verabreicht. Er erzählt, dass er im Traum von zwei Frauen und einem Mann angegriffen und auf ihn geschossen wurde. Um für Kojo zu beten gehen Maya und ihre Mutter in die Kirche und besuchen einen Gottesdienst. Araba, Kojos Frau, weckt Maya auf und erzählt, dass er einen Unfall hatte. Sehr trauriger Anblick in der Leichenhalle.

Eineinhalb Jahre später fliegt Maya wieder nach Ghana. Kojos Tod hat auch ihrer Mutter sehr zugesetzt. In jeder Generation gab es einen der auserwählt war, „Wissen von den frühesten Epochen zu besitzen, zu sehen, was andere nicht sehen konnten: ein … Gotteskind, das das Flüstern des Universums deutlicher hören konnte als den Lärm der Welt ringsum, deutlicher als die Stimme der Ahnen oder sogar der Geschichte.“ (S. 200). Kaum zurück in London erfährt sie, dass ihre Mutter einen schweren Schlaganfall erlitten hat. Sie fliegt sofort nach Accra, wo ihre Mutter andern Tags stirbt.

Fünfter Teil

Kojo erscheint Maya im Haus ihrer Mutter im Traum. Mit der Distanz – zurück in London – nimmt ihre Angst vor der unbekannten Gewalt ab. Sie erhält ein Stipendium um nach Gyatas Objekten zu forschen – vermutlich der königliche Großvater. Sie kuratiert die Ausstellung „Verschwindendes Afrika: Stammesporträts“, alles was Mayas Großvater gehört hatte, von ihr zusammengetragen. Tumultartige Zustände bei der Eröffnung.

Dann die Rückkehr in die Heimat. Blick in eine Bretterbude und Besuch im Geschäft, das zugleich Friseursalon war. Gespräch mit der gleichaltrigen Friseurin. Mayas Gedanken gehen wieder zu ihrer Mutter und darüber hinaus: „… an die Vision eines blanken Tisches, … den leeren Stuhl, … die Schatten all jener, die vor Langem gegangen waren, und an die offene Tür, durch die ich, wenn ich es nur wollte, treten konnte.“ (S. 240).

Nach soviel Lesestoff hier nun auch was spitzes zu Musik, Sport und Fernsehen.

#PreppoKompakt

Das ist das Schöne an der Literatur. Hält man das Buch in der Hand – auch das E-Book – dann hält einen nichts mehr auf, nicht einmal ein Virus. Wir verreisen wohin und so oft wir wollen. Unbegrenzte Möglichkeiten. Literatur machts möglich.

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