Spitz-findig-keit #130

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Spitz oder Spitze sind in aller Regel pointierte Aussagen zum Zeitgeschehen. Dies kann, muss aber nicht die Politik betreffen. Es kann auf die Gegenwart oder auch auf die Vergangenheit gemünzt sein. Spitz ist eine Aussage dann, wenn sie sticht, der betreffenden Person oder Personengruppe wehtut, spitze, wenn sie ausgezeichnet formuliert ist und im Idealfall zudem die Wahrheit abbildet. Fi/ündig, wenn der beschriebene Umstand nicht ganz offensichtlich, also erst zu ergründen ist. Und -keit lässt auf unterschiedliche menschliche Eigenheiten/-schaften schließen, wie beispielsweise Eitelkeit, Heiterkeit, Überheblichkeit oder, oder. Alles zusammengenommen eine echte Spitzfindigkeit. In unserer Kolumne ‚Spitz-findig-keit‘ zitieren wir in lockerer Folge jeweils zwei oder drei Aussagen und verschonen dabei auch nicht klassische Denkerinnen und Denker.

Um Denkanstöße zu geben, die Freude am Formulieren zu wecken – nichtzuletzt auch um dem Humor in unserer doch etwas trostloseren Zeit wieder mehr Geltung zu verschaffen. Erhöht das Wohlbefinden. Packen wir es an! Ich sage nicht, wir schaffen das. Aber wir probieren es auf jeden Fall!

Spitzfindigkeiten zuhauf!

Vorbemerkung

Es gibt nach Immanuel Kant auch eine falsche Spitzfindigkeit, die wir uns hier allerdings nicht zu eigen machen wollen. Wer dem dennoch nachgehen möchte – Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren – kann dies hier gerne tun.

Heute nehmen wir dafür ganz bewußt räumliche Distanzen in Kauf, die dabei helfen, die Dinge/Realitäten weit klarer zu sehen, als nur aus der Nähe. Zudem blicken wir kurz von Essen nach Paris. Und kehren schlussendlich von dort nach Berlin zurück.

1. Spitz-findig-keit

Hinweis auf eine echt sehenswerte Ausstellung von Chagall, Matisse, Miró und anderen, alle „Made in Paris“, im Museum Folkwang in Essen. Dabei hat mir der Zufall geholfen, dass ich sie zusammen mit Elke, meiner Cousine 2. Grades, besuchen konnte. Denn am Samstag letzter Woche fand ein von langer Hand geplantes Familientreffen statt, das mich zum allerersten Mal in die Geburtsstadt meines im letzten Jahr verstorbenen Vaters geführt hat.

Faszinierend nicht nur die Vielfalt der präsentierten Künstler mit ihren charakteristischen Ausdrucksformen und Malstilen. Auch das Zusammentreffen von Gemälden mit Lithografien, Holzschnitten sowie Radierungen aus ein und derselben Hand. „Einen besonderen Stellenwert nehmen Künstlerbücher mit Originalgrafik ein: In kreativem Dialog mit einer literarischen Vorlage entstanden Bildmotive, die den jeweiligen Text auf einzigartige Weise illustrieren und kommentieren.“ (S. 129, Quelle siehe nachfolgend).

Hier als Beispiel Robert Delaunays (1885-1941) Gemälde „Die Fenster zur Stadt“ aus dem Jahr 1912 (oben) und das Buch „Allo! Paris!“ des Dichters Joseph Delteil (1894-1978) aus 1926, illustriert mit 20 Lithografien Delaunays (unten). Diese stehen in keinem direkten Bezug zum Text, einer launigen Liebeserklärung an Paris, sondern vermitteln – oft aus der Vogelperspektive – visuelle Eindrücke von der Stadt an der Seine (Ausstellungskatalog, Edition Folkwang / Steidl, Göttingen 2023, S. 128-135). Der Eintritt in die Sonderausstellung – noch bis zum 7. Januar 2024 zu sehen – kostet übrigens 10 Euro, der voluminöse Katalog 38 Euro.

2. Spitz-findig-keit

Faz-net vom 5.9.2023 mit „Zurück auf dem sinkenden Schiff“ präsentiert (hinter Schranke) die Eindrücke des Journalisten Jochen Buchsteiner, der sich nach 20jähriger Abwesenheit als Auslandskorrespondent wieder in Deutschland, speziell in Berlin, zurechtfinden muss. Hier eine Auswahl seiner sehr ernstzunehmenden Betrachtungen.

Alte Schule

„Gemessen am allgemeinen Gejammer schlägt sich die Stadt Berlin wirklich wacker, und manchmal gibt sie sogar richtig an. Wenige Tage nach meiner Rückkehr erhielt ich einen Anmeldungstermin. Zeitpunkt: Donnerstag, 8.37 Uhr. Als ich ge­gen halb neun erschien, bat mich ein städtischer Türsteher, doch bitte noch Platz zu nehmen; ich sei drei Minuten zu früh. Eine halbe Stunde später sauste der Berlin-Stempel auf meinen ausgefransten Pass nieder, die Anmeldeurkunde wurde ausgehändigt, und die Stadtbedienstete sagte: „So, jetz sindse wieder hier!”

Der Geldbeutel klamm

„Vor zwanzig Jahren waren Doppeleinkommen noch eine Lifestyle-Frage. Heute sind sie in den meisten deutschen Familien die Voraussetzung dafür, sich eine kleine Wohnung und gelegentlich einen Urlaub leisten zu können. Dass das deutsche Wohlstandsniveau im Verhältnis zu anderen Weltregionen langsam absinkt, erklärt vermutlich ei­nen Teil der wachsenden Unruhe, zumal viele Bürger spüren, dass die Wahrheit vernebelt wird und sich keiner in der Regierung traut, zu sagen, was jetzt zu sagen wäre: dass die Zeiten eher noch härter werden, und dass es nicht mehr, son­dern weniger zu verteilen gibt.“

Die vierte Gewalt arrangiert sich

„Das jähe Erwachen aus dem Traum immerwährender Sorglosigkeit müsste doch eigentlich mehr Realismus wecken, zur Konzentration auf das Wesentliche führen, neuen Schwung befördern? Sonderbar, dass die Regierung da so wenig vorantreibt und vor allem um sich selbst kreist. … Halbwegs geborgen fühlen sich Ampelrepräsentanten nur noch im Regierungsviertel, wo sich zwar alles beschleunigt, aber gar nicht so viel verändert hat. Noch immer wird im besten Einvernehmen Quellenzugang ge­gen einfühlsame Berichterstattung getauscht, so wie in den meisten Ländern, und weiterhin ringt das soziokulturelle Wirgefühl von Politikern und Journalisten mit dem demokratisch vorgesehenen Gegeneinander.“

Gereizte, moralinsaure Stimmung

„Die Stimmung im Land wirkt rauer als vor zwanzig Jahren, gereizter, und reibt sich zunehmend an dem, was manche als ‚grünen Zeitgeist‘ bezeichnen. Der Marsch durch die Institutionen, der mit Joschka Fischer an der Spitze in den späten 90er-Jahren Fahrt aufnahm, ist am Ziel angelangt. Man muss nur mit Lehrern sprechen, mit Richtern, mit Beamten. … Weit verbreitet ist die Überzeugung, dass wir als Deutsche eine ganz besondere moralische Verantwortung für die Welt tragen und dass die meisten Probleme bei uns mit irgend­einer Form von Diskriminierung zusammenhängen. Aber zunehmend sind nachdenkliche, auch gallige Stimmen zu hören: dass man gerade andere Sorgen habe als die Geschlechterrepräsentation neu auszubalancieren, die Lage für Queere kommoder zu gestalten oder die steigenden Lebenshaltungskosten auch noch mit neu­en Heizungs- und Dämmauflagen zu be­lasten.“

3. Spitz-findig-keit

In der NZZ vom 5.9.2023 interviewt Roman Bucheli seinen Berufskollegen Dirk Schümer – FAZ, respektive Die Welt -, der sich und uns Deutschen allgemein einen kollektiven „Knall“ bescheinigt. Schümer, Jahrgang 1962, war gut 20 Jahre in Venedig tätig und kehrte 2019 nach Deutschland zurück. Wohnt jetzt in Baden-Baden auf, wie er es umschreibt, Beobachterposition. „Nur nicht da sein, wo die Macht oder das Geld oder wo der Mainstream gerade ist. Davon versuche ich mich immer fernzuhalten, um mir die Dinge von aussen anzugucken.“

Auf die Frage, was ihn eigentlich noch in Deutschland freut, antwortet er lapidar, dass er gerne die Vögel füttert. Und ob ihm da Heinrich Heine in den Sinn käme? Ja, allerdings ein wenig abgewandelt. „Ich sage immer: Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann hab ich was falsch gemacht. Ich versuche so wenig wie möglich an Deutschland zu denken. Und an die, die da regieren.“

Drei Schlüsselsätze zum Schluss

„Ich war Juso-Vorsitzender in meiner Stadt, als die Sozialdemokratie noch weniger mit diesen woken Gegenwartsthemen beschäftigt war, sondern mit den Lebensbedingungen der einfachen Leute. Seit Einrichtung des Sozialstaates ist die Sozialdemokratie zu einem Privilegienverteilungs-Institut geworden.“

„Ich habe nicht die Absicht, den Kapitalismus umzustürzen. Da hat Churchill schon alles Notwendige dazu gesagt: Der Kommunismus verteilt die Armut gleichmässig und der Kapitalismus den Reichtum ungleichmässig. Dann ist das Zweite immer noch erstrebenswerter.“

„Wir lernen aus der Geschichte, dass wir nichts aus der Geschichte lernen. Das ist mein Credo. Die Geschichte relativiert alle kurzzeitig aufflammenden Illusionen wie etwa nach dem Ersten Weltkrieg: ‚the war to end all wars‘. Wie lange hat das Versprechen gehalten? 21 Jahre, dann ging’s wieder von neuem los.“

Und hier geht es auch von neuem los.

#PreppoKompakt

Wie wahr, wie wahr – denkt man an die Ukraine in der Nacht, dann ist man um den Schlaf gebracht. Besser nicht daran denken. Die Probleme werden damit zwar nicht gelöst, aber sie können ja woanders hin verschoben werden. Kleines Beispiel gefällig? Wir haben uns schon 2019 im Blog über E-Scooter mehrfach Gedanken gemacht. Wie faz-net nun am 30.8.2023 berichtet, werden die aufgrund von vielen Unfällen mit schweren Verletzungen in Paris verbotenen 15.000 Leih-E-Scooter von der Seine zum Teil auch nach Berlin verlegt. Einige landen dort sicherlich auch wieder in der Spree. Ja, es stimmt, wir haben definitiv einen Knall.

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