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Die Zahl wächst. Gefühlt kommt der besagte Kipppunkt näher und näher. Wir knüpfen an unsere Beiträge vom 25. September – hier – und 14. Oktober – hier – an, die eine Neubewertung der Kernkraft widerspiegeln. Es mehren sich die Nachrichten über neue Reaktortypen – der vierten Generation – sowie über staatliche Institutionen und Politiker, die angesichts verschärfter Klimaziele und steigender Energiepreise über den passenden Energiemix nachdenken. Definitv, die Zahl wächst. Möglicherweise werden wir Zeugen einer Renaissance der Kernkraft.
Grundsätzliche Überlegungen neu angestellt
Dabei schadet es nicht, grundsätzliche Überlegungen anzustellen. Eindrucksvoll geschieht dies im zweiteiligen ARTE-Video aus 2014 „Ein Metall wird zur Bombe“ und „Ein Metall verändert die Welt“ (jeweils 52 Minuten lang, nur bis 8.11.2021 abrufbar). Dort werden klar und deutlich die Gefahren und Probleme der Kernkraftnutzung aufgezeigt. Aber gegen Ende des zweiten Teiles (ab 45:40) auch auf die neue Generation von Kernreaktoren eingegangen, deren Entwicklung noch 10 Jahre benötige. Die Quintessenz lautet, dass die Zeit für Uran wohl erst in 10 Jahren reif sei – das wäre 2024. Aus dem im Video von der jungen Ingenieurin Leslie Dewan beschriebenen „Molten Salt Reactor“ wurde übrigens nichts, seine Entwicklung in 2018 aufgegeben.
Stand heute sieht es dennoch so aus, als ob andere Reaktoren der vierten Generation mit genügend Verbesserungen aufwarten können, um beliebte Sterotypen und eingefahrene Denkmuster – wie „Atomkraft? Nein danke“ – zu überdenken und zu hinterfragen. Aber genug, um am Ende des Tages auch die Nutzung der Kernkraft im Energiemix verantworten zu können? „Sonne, Wind und Kerne“ – wie es Prof. André Thess hier bei „Preppo fragt nach!“ mit einem Schuss Optimismus elegant auf den Punkt bringt.
Neueste „Wortmeldungen“
- Auf Tichys Einblick vom 12.10.2021 berichtet Cora Stephan unter der Überschrift „Atomkraft? Ja, bitte!“ über den FDP-Vize Michael Theurer und sein Bekenntnis zur Kernkraft, sogar unter Berufung auf Greta Thunberg. Das hatte Theurer im Interview mit Focus-Online am 5.10.2021 beteuert.
- Die NZZ berichtet am 14.10.2021 über steigende Erdgaspreise und die Notwendigkeit, dogmatischen Balast abzuwerfen. Die Diskussion in der Europäischen Union darüber, ob Erdgas und Kernkraft als „grüne“ Technologien einzustufen sind, sei bizarr. „In einer engen Definition sind sie es nicht: Gas ist aber besser als Kohle, und Atomkraft ist besser als Gas, wenn CO2-Emissionen betrachtet werden. Massgeblich sollte das Treibhausgas-Einsparungs-Potenzial in einem real existierenden Energiesystem und nicht in einem Wolkenkuckucksheim sein.“
- In faz-net vom 19.10.2021 (hinter Schranke) kommt der ehemalige Vorstandsvorsitzende der BASF, Jürgen Hambrecht, zu Wort. Er war pikanterweise Mitglied in der von Kanzlerin Angela Merkel in 2011 berufenen Ethikkommission, die den Atomausstieg auf Ende 2022 absegnen mußte. Der gleichzeitige Ausstieg aus Kohle und Atomkraft sei ein Fehler, sagt er, und das Ende der Kernkraft unter gänzlich anderen Voraussetzungen beschlossen worden. „Weder sei die Rede davon gewesen, sich zugleich aus der Stein- und Braunkohleverstromung zurückzuziehen; im Gegenteil habe seinerzeit die Politik den Bau neuer moderner Kohlemeiler befürwortet. Noch habe es derart ehrgeizige Minderungsziele für Treibhausgase gegeben wie heute.“
Und weiter – die Zahl wächst
- Auch DerStandard siniert am gleichen Tag darüber, ob Kernkraft die europäischen Klimaziele retten könne. Und postuliert, dass Innovation gefragt sei, nicht auszuschließen, dass Technologiesprünge gelingen, die sowohl Kosten als auch Risiken senken. „China testet in Wuwei etwa einen Reaktor, der statt festen Brennstäben ein flüssiges Salz und statt Uran das weit häufigere Thorium verwendet. Außerdem stecken in Atommüll große Mengen an nicht genutzter Energie, zahlreiche Unternehmen suchen derzeit nach Lösungen, um sie zu nutzen. … Die größte Hoffnung der Kernkraftbefürworter liegt in den sogenannten Small Modular Reactors. Das sind kleine, vorgefertigte Kraftwerke, die je nach Bedarf in Reihen aufgestellt oder auf Schiffen betrieben werden.“ In welch hohem Maße das Thema die Menschen umtreibt zeigen die annähernd 2200 Kommentare/Postings auf diesen Artikel von Aloysius Widmann.
- Und in faz-net vom 21.10.2021 werden entsprechende Überlegungen aus den Niederlanden kolportiert. „Immerhin beschloss Den Haag im Jahr 2019, dass spätestens 2030 Schluss sein soll mit der Kohleverstromung. Kohleausstieg ja, Atomausstieg nein, anders als in Deutschland. Und Kernkraftausbau?“ Das erscheint momentan als eine Hängepartie. Denn sieben Monate nach der Parlamentswahl haben die bisherigen vier Koalitionspartner immer noch kein neues Kabinett aufgestellt. Aber im Grunde genommen sind alle „… dezidiert für Kernenergie oder zeigen sich offen dafür.“
- Selbst heute beschäftigt sich die NZZ ausführlich mit Großbritannien – dessen Zögern bei der Atomkraft schade dem Klima. Und mit Frankreich – um die Gründe für die Kernkraftoffensive von Präsident Macron weiter zu erläutern (jeweils hinter Schranke).
Mut zur Renaissance der Kernkraft wider allen Denkblockaden
Wenn wir weiterhin Vogel Strauß spielen und die Köpfe (soweit es nur geht) in den Sand stecken, kann das nicht gutgehen. Zuerst und vor allem betrifft dies die deutsche Industrie. So sucht man in der ganz aktuell vor zwei Tagen vom Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) in der Bundespressekonferenz in Berlin vorgestellten Studie „Klimapfade 2.0“ unter den Kernergebnissen und bei den Kernaussagen vergeblich nach der Kernenergie. Dort geht es primär um den Zubau neuer Gaskraftwerke, mehr als 40 GW, und eine treibhausgasneutrale Wasserstoffwirtschaft. Also eine Klimazukunft ohne Kernkraft.
Es hat den Anschein, als hätten die im BDI vertretenen Unternehmen – sie erwirtschaften ein Drittel unseres Bruttoinlandsprodukts (BIP) – vorschnell aufgegeben, weil es eben der Regierungslinie widerspräche. Da passt ausgezeichnet der in faz-net vom 21.10.2021 (hinter Schranke) enthaltene Appell an die immer konkreter werdenden Ampel-Koalitionäre, eine offene Diskussion über die Kernkraft einfach zu wagen. „Ihre Energieeffizienz, der ‚Erntefaktor‘, ist viel höher als die der Erneuerbaren, ihre Klimabilanz viel besser als die von Kohle und Gas. Kernkraftwerke laufen auch in ‚Dunkelflauten‘, können dort stehen, wo der Bedarf herrscht, und sie wären in der Lage, CO2-frei Unmengen an Wasserstoff zu produzieren.“ Dies schreibt mit seinem Kommentar Christian Geinitz der rot-grün-gelben Bundesregierung in spe ins Stammbuch.
Widmung
Einem lieben Freund und Kollegen aus Straßberg gewidmet, der es heute ganz entspannt auf die „Zahl“ 66 gebracht hat.
Und hier gibt es Stuttgarter Spitzfindigkeiten.
#PreppoKompakt
Kurz gesagt, die Zeit scheint reif für eine Renaissance der Kernkraft. Sapere aude, wie es auf Latein heißt. „Wage es, weise zu sein!“ oder nach Immanuel Kant „Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Die Zahl derer wächst, so sieht es aus.