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Preppo fragt nach bei Prof. Amartya Sen

Am 27. Oktober 2020 haben wir hier das Buch von Professor Amartya Sen „Die Welt teilen“ besprochen. Nun hatten wir die einmalige Chance – und zugleich die ganz besondere Ehre -, ihn dazu gezielt befragen zu können. Ihm selbst und seiner Fakultätsassistentin Chie Ri sind wir dafür zu großem Dank verpflichtet. Nachfolgend unsere sechs Fragen und die wohlabgewogenen Antworten von Prof. Sen. Die originale englischsprachige Fassung ist hier hinterlegt. Für die zügige Übersetzung der Fragen ins Englische und der Antworten ins Deutsche haben wir Dr. Barbara Bitzer-Alber zu danken.

1. Herr Prof. Sen, wir haben im Oktober letzten Jahres hier im Blog Ihr kurz zuvor erschienenes Buch „Die Welt teilen. Sechs Lektionen über Gerechtigkeit“ besprochen. Darin sind sechs Essays/Reden aus den Jahren 2001 bis 2014 wiedergegeben. Im aktuellen Vorwort drücken Sie Ihre Hochachtung vor John Maynard Keynes aus, einem britischen Ökonomen, und sprechen von sozialen Spannungen und Kleinkriegen in Indien. Auslöser seien lähmende Asymmetrien zwischen den Menschen, denen man im Sinne von Keynes auch durch eine öffentliche Meinungsbildung entgegentreten könne. Überschätzen Sie im Zeitalter des Internets und der sozialen Medien nicht ganz einfach die Möglichkeiten, hierauf Einfluss zu nehmen, um Ungerechtigkeiten aus der Welt zu schaffen?

Es könnte tatsächlich sein, dass die öffentliche Diskussion, so intensiv sie auch sein mag, nicht alle Streitigkeiten bezüglich der verschiedenen Auffassungen von Gerechtigkeit und die sozialen Spannungsfelder, die sie möglicherweise generieren, aufzulösen vermag. Jedoch ist Keynes Empfehlung Streitigkeiten durch Argumente beizulegen weiterhin ein wichtiges Mittel, zum Teil weil einige Dispute sicherlich dadurch beigelegt werden können indem wir unsere verschiedenen Positionen besser verstehen. Wenn uns klar ist, was unsere tatsächlichen Differenzen sind, dann können wir auch sinnvoller über gerechte und akzeptable Kompromisse nachdenken.

2. Sie sind im November 1933 in Britisch Indien geboren und leben, nachdem Sie viele Jahre an verschiedenen Universitäten in Indien, England und USA geforscht und gelehrt haben, abwechselnd an Wohnsitzen in Cambridge/GB und Cambridge/USA. Ihre „Winterferien“ verbringen Sie regelmäßig „zuhause“ in Westbengalen. 1998 haben Sie den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften und im Oktober 2020 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen bekommen. Außerdem sind Sie zum dritten Mal verheiratet. Ihr Vorname Amartya bedeutet – sinngemäß – der Unsterbliche. Sind Sie damit schon am Ziel?

Danke für das Aufreihen verschiedener Merkmale meines Lebens vor meinen Augen. Sie stehen nicht wirklich im Gegensatz zueinander, noch lösen sie, auch nicht in ihrer Gesamtheit, die ultimativen Prioritäten meines Lebens, die ich womöglich als solche für mich festlege. Die Welt in die ich hineingeboren wurde hatte großes Elend in Form von Leiden und Krankheiten, Hunger und Schmerz und es gab viele Entbehrungen eines guten Lebens, weil manche Menschen nur sehr eingeschränkte Möglichkeiten hatten. Ich hatte immer gehofft etwas tun zu können um jene Widrigkeiten zu beseitigen, aber ich fürchte, dass trotz meiner Bemühungen, ich nicht in Anspruch nehmen kann, dieses Ziel erreicht zu haben.

3. In Ihrer Ansprache zur Verleihung des Friedenspreises rufen Sie dazu auf, mehr zu lesen, mehr zu reden und mehr miteinander zu diskutieren. Zugleich brechen Sie eine Lanze für mehr Marktwirtschaft und für demokratische Werte, wie Freiheit allgemein und die Pressefreiheit im Besonderen. Nun sind wir gegenwärtig in vielen Ländern auf einem entgegengesetzten Weg. Sie sagen: „Ein Volk ist nicht von vorneherein ‚demokratiefähig‘, sondern wird fähig durch Demokratie.“ Was raten Sie den politisch Verantwortlichen und den Menschen, um nicht weiter in die Sackgasse zu rennen?

Um der Genauigkeit willen, es ist nicht meine Überzeugung die Menschen wären nicht von Natur aus geeignet für die Demokratie. Tatsächlich glaube ich, dass die Menschen diese Fähigkeit besitzen, die sie nützen können, wenn sie adäquate Möglichkeiten im individuellen und sozialen Leben haben. Aber Sie haben Recht, dass ich glaube die Anwendung der Demokratie selbst trägt zur Entwicklung unserer Fähigkeiten bei, demokratische Institutionen und Werte zu nützen. Dafür ist es sehr wichtig, dass die Menschen Gedankenfreiheit und Redefreiheit haben, sowie auch die Freiheit Probleme offen mit anderen zu diskutieren, ohne dafür bestraft zu werden. Das Streben nach diesen Zielen ist wirklich wichtig.

4. In Ihren Essays und Reden finden sich neben vielen europäischen Geistesgrößen – wie Francis Bacon oder Marcel Proust – unter anderem Bezüge auf Immanuel Kant und Heinrich Heine. Von Letzterem stammen auch die „Nachtgedanken“. Was verbindet Sie – außer dem Friedenspreis – mit Deutschland und seiner Kultur?

Ich glaube, dass die zivilisatorischen Eigenschaften der Welt am besten als verschiedenartige Manifestationen der global in Wechselwirkung stehenden Zivilisation zu sehen sind, die wir alle teilen. Goethe mag von der Dichtung und den Theaterstücken des indischen Dichters Kalidasa aus dem fünften Jahrhundert begeistert gewesen sein, und der indische Schriftsteller Tagore des zwanzigsten Jahrhunderts mag wiederum stark beeinflusst sein von den kreativen Schriften eines Goethes und Kants. Verschiedene Teile einer Weltzivilisation tendieren dazu, umfassend in Wechselwirkung zu stehen. In diesen Verbindungen liegt nichts Erstaunliches.

Ich hatte Gelegenheit mit einer großen Zahl Deutscher zu sprechen (das heißt also über das Lesen von Kant und Heinrich Heine hinausgehend), die mein Denken beeinflusst haben. Auch kamen Einflüsse manchmal von einfachen Menschen anstatt großer Schriftsteller. In meinem vor kurzem publizierten Buch Home in the World, das, wie ich glaube in Deutsch vom Verlagshaus Beck herausgegeben wird, habe ich viele Beispiele wie wir uns gegenseitig auf verschiedene Art und Weise beeinflussen. In meinem Fall kam eine Anzahl von Einflüssen durch Gespräche mit deutschen Studenten und Gästen hinzu. Gegenseitige Wechselbeziehungen sind ein wunderbares Merkmal der menschlichen Zivilisation, die die Wissenschaft und Mathematik genauso wie die Dichtung und die Literatur beeinflussen.

5. In Bezug auf den Klimawandel – dahingestellt, ob und zu welchen Teilen menschengemacht oder nicht – gibt es Überlegungen in Richtung einer weltweit angewandten, aufkommensneutralen CO2-Steuer mit Ausgleichsmechanismen für den grenzüberschreitenden Warenverkehr. Diskutiert wurde eine solche Steuer schon 2016 in den USA zu Zeiten des Wahlkampfes Trump-Clinton. Aufkommensneutral heißt, dass die gesamten Einnahmen aus der Steuer nach sozialen Gesichtspunkten an die Bürgerinnen und Bürger zurückgegeben werden. Dadurch würde die Lenkungsfunktion durch die höheren Preise nicht beeinträchtigt und ein lebhafter Wettbewerb initiiert, um die besten Methoden und technischen Verfahren zur Verringerung der CO2-Emissionen zu entwickeln. Was halten Sie als Ökonom davon?

Die komplexen Beziehungen, die Sie ansprechen, sind tatsächlich wichtig, und es ist exzellent, dass Sie unsere Aufmerksamkeit auf diese Zusammenhänge lenken. Aber wir müssen zur Vervollständigung Ihres erleuchteten Bildes dieser feinen Kalkulationen und über die Berücksichtigung dieser Beziehungen hinaus, vor allem die Wichtigkeit eines moralischen Bekenntnisses stellen, um sich um die Zukunft genauso wie um die Gegenwart in einer Art und Weise zu kümmern, die einen engstirnigen Eigennutz verneint. 

6. Sie hatten, wie Sie im sechsten Essay schreiben, im Januar 2014 die Gelegenheit, der „Göttin der mittelgroßen Träume“ sieben Wünsche – für jeden Tag der Woche einen – vorzutragen. Wenn Sie sie zufällig wieder treffen würden, was wäre, bezogen auf die Weltengemeinschaft, Ihr dringlichster Wunsch?

Das ist eine sehr schwierige Frage, aber ich bin entzückt, dass Sie sie gestellt haben. Es gibt viele verschiedene Wege das Leben anderer weniger angenehm und dafür problematischer zu machen. Diese unwillkommenen Eingriffe (Manifestationen sind beispielsweise Rassismus, ethnischer Hass, Gewaltherrschaft über die Schwachen, Störung der demokratischen Ordnung durch interne oder externe Einmischung) können wenigstens teilweise im Zaum gehalten werden durch unsere ethischen Überzeugungen. Ich weiß nicht, ob „die Göttin der mittelgroßen Dinge“ tatsächlich unser ethisches Denken beeinflussen kann, aber sie mag erwägen die Menschen in diese Richtung zu lenken, da wir alle zu guter Letzt uns gegenseitig durch unsere Ideen beeinflussen.

Vielen herzlichen Dank, Herr Prof. Sen.

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#PreppoKompakt

Wenn man das Gesagte etwas auf sich einwirken lässt, dann fällt einem zunächst die Friedfertigkeit der Gedanken und die ungeheuere Gelassenheit dieses Mannes auf. Auch seine Bescheidenheit ist beeindruckend, vor allem wenn man ihn mit Personen aus der Politik vergleicht – was vielleicht gerade in Wahlkampfzeiten etwas ungerecht erscheint. Ein Schlüssel zum Verständnis sind die Wechselbeziehungen, auf die Amartya Sen immer wieder hinweist. Denn nur wer offen, menschenfreundlich und nicht übertrieben egoistisch ist, kann sie mit Leben erfüllen und sein Gegenüber angemessen zur Geltung kommen lassen. Auf sein neues Buch „Home in the World“ – es erscheint am 8. Juli bei Penguin Random House – dürfen wir gespannt sein. Die deutsche Fassung, so Prof. Sen, wird von C.H.Beck in München verlegt werden.

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