Spitz-findig-keit #193

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Spitz oder Spitze sind in aller Regel pointierte Aussagen zum Zeitgeschehen. Dies kann, muss aber nicht die Politik betreffen. Es kann auf die Gegenwart oder auch auf die Vergangenheit gemünzt sein. Spitz ist eine Aussage dann, wenn sie sticht, der betreffenden Person oder Personengruppe wehtut, spitze, wenn sie ausgezeichnet formuliert ist und im Idealfall zudem die Wahrheit abbildet. Fi/ündig, wenn der beschriebene Umstand nicht ganz offensichtlich, also erst zu ergründen ist. Und -keit lässt auf unterschiedliche menschliche Eigenheiten/-schaften schließen, wie beispielsweise Eitelkeit, Heiterkeit, Überheblichkeit oder, oder. Alles zusammengenommen eine echte Spitzfindigkeit. In unserer Kolumne ‚Spitz-findig-keit‘ zitieren wir in lockerer Folge jeweils zwei oder drei Aussagen und verschonen dabei auch nicht klassische Denkerinnen und Denker.

Um Denkanstöße zu geben, die Freude am Formulieren zu wecken – nichtzuletzt auch um dem Humor in unserer doch etwas trostloseren Zeit wieder mehr Geltung zu verschaffen. Erhöht das Wohlbefinden. Packen wir es an! Ich sage nicht, wir schaffen das. Aber wir probieren es auf jeden Fall!

Vorbemerkung

Es gibt nach Immanuel Kant auch eine falsche Spitzfindigkeit, die wir uns hier allerdings nicht zu eigen machen wollen. Wer dem dennoch nachgehen möchte – Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren – kann dies hier gerne tun.

Stattdessen beschäftigen wir uns mit dem Umgang mit enttäuschten Erwartungen, Unerwartetem und einem traurigen Ende.

1. Spitz-findig-keit

Die NZZ vom 13.11.2024 thematisiert den heutigen Umgang mit Idolen: „Menschen, zu denen man seit halben Ewigkeiten aufgeschaut hat, weil sie Grosses geschaffen oder geleistet haben – grandiose Musik komponiert, kluge Dinge geschrieben, Wissenschaften gefördert, Unrecht bekämpft –, entpuppen sich plötzlich als Pädophile, Putin-Sympathisanten, Frauenverprügler oder Judenhasser.“

Dann folgt eine lange Liste mit Beispielen, vier davon herausgegriffen: „Der Pink-Floyd-Frontmann Roger Waters geriert sich als Antisemit und Israel-Boykotteur und unterstützt die Mär, die Nato sei schuld an Russlands Überfall auf die Ukraine. Der Vorzeige-Dissident Chinas und Liebling westlicher Kuratoren und Kunstkritiker Ai Weiwei kritisierte kürzlich die ’signifikante Präsenz von Juden in den USA‘. … Die Sopranistin Anna Netrebko sympathisierte mit Putin. … Der Dalai Lama forderte einen Jungen auf, seine Zunge zu lutschen.“

Wie damit umgehen? Denjenigen/diejenige von da an einfach ignorieren, ausgrenzen, nicht mehr wahrnehmen, wie es die sogenannte „Cancel-Culture“ propagiert und praktiziert. Nein, denn mit den sozialen Netzwerken als effizienten Brandbeschleunigern und einer oft voreingenommenen, eher linken „Moralpolizei“, wird das Schlechte nicht aus der Welt geschafft. „Ein Patentrezept gibt es nicht. Idole von heute können sich morgen als Mogelpackung erweisen. An ihren Werken sollte man sich weiter ergötzen, alles andere Staatsanwälten und Richtern überlassen.“ Soweit Viola Schenz am Ende des ausgewogenen Artikels mit ihrem klugen Ratschlag.

2. Spitz-findig-keit

Dazu passend DerStandard vom 20.11.2024, der mit seiner regelmäßigen Glosse „Rampenschau“ gelegentlich auch den Rohstoff fürs „Canceln“ liefert. In diesem Fall könnte es den Ex-Formel-1-Rennfahrer und TV-Experten Ralf Schuhmacher sowie den Stiefsohn von Norwegens Kronprinz Haakon, Marius Borg Høiby, treffen.

„Total entspannt reagiert … Schumacher auf homophobe Äußerungen vom Vater des Formel-1-Piloten Sergio ‚Checo‘ Pérez. Antonio Pérez Garibay hatte in einem Podcast zur Kritik an seinem derzeit bei Red Bull glücklosen Sohn geäußert: ‚Es gibt einen Fahrer, der in der Formel 1 war und jetzt Journalist ist, der zuerst erklärte, dass Checo schon bei Red Bull raus war, und sich in den Wochen danach outet. Ich weiß nicht, ob er in Checo verliebt war‘, sagte Papa Pérez.“

„Der älteste Sohn der norwegischen Kronprinzessin Mette-Marit wurde am Montag kurz vor Mitternacht in einem Auto festgenommen – zum dritten Mal binnen vier Monaten. Nach der Ausweitung der Vorwürfe gegen … Marius Borg Høiby hat die Osloer Polizei laut APA Untersuchungshaft für den 27-Jährigen beantragt. … Høiby wird nun auch ein Verstoß gegen einen Paragrafen vorgeworfen, in dem es um sexuellen Umgang mit einer Person geht, die bewusstlos ist oder sich aus anderen Gründen der Handlung nicht widersetzen kann.“

3. Spitz-findig-keit

Im bei uns oft herangezogenen „Buch der Tagebücher“ hat der schon in der #104 über die Dummheit zu Wort gekommene Kurt Tucholsky (1890-1935), genau heute vor 90 Jahren im Exil in Hindås, östlich von Göteburg/Schweden, das Folgende vermerkt (S. 551-552; zur Person S. 660):

„Da war – das muß im Jahre 1910 gewesen sein – wegen Komet die Nachricht vom nahen Weltuntergang verbreitet, und ganz Göteburg glaubte das auch, besonders die Dienstmädchen beiderlei Geschlechter. Und eines Tages pappten an allen Mauern Plakate der Heilsarmee: LASST UNS GEMEINSAM STERBEN! Eintritt 25 Öre.“

Vom 24.11.1934 bis zum 21.12.1935 lebte Tucholsky dann noch genau 393 Tage. Er starb alleine, nachdem er tags zuvor – laut Wikipedia (auch zum folgenden) – eine Überdosis Schlaftabletten zu sich genommen hatte. Das Eintrittsgeld jedenfalls hat er gespart.

Im Brief vom 15.12.1935 an den Schriftstellerkollegen Arnold Zweig, der nach Palästina emigriert war, zog er resigniert die Bilanz seines politischen Engagements in und für Deutschland: „Das ist bitter, zu erkennen. Ich weiß es seit 1929 – da habe ich eine Vortragsreise gemacht und ‚unsere Leute‘ von Angesicht zu Angesicht gesehen, vor dem Podium, Gegner und Anhänger, und da habe ich es begriffen, und von da an bin ich immer stiller geworden. Mein Leben ist mir zu kostbar, mich unter einen Apfelbaum zu stellen und ihn zu bitten, Birnen zu produzieren. Ich nicht mehr. Ich habe mit diesem Land, dessen Sprache ich so wenig wie möglich spreche, nichts mehr zu schaffen. Möge es verrecken – möge es Rußland erobern – ich bin damit fertig.“ Rund 10 Jahre später war beides Geschichte.

Und hier geht es gleich süß-sauer weiter.

#PreppoKompakt

Den „Fall“ Anna Netrebko haben wir ja unter anderem in der #50 schon ausführlich erörtert. Er zeigt exemplarisch auf, dass eine Vorverurteilung keinen Sinn macht. Und selbst wenn – Mogelpackungen passieren nun mal – ein schuldhaftes Vergehen vorliegen sollte, ist der finale Richterspruch abzuwarten. Das gilt für Kunstschaffende, Sport- und Politiktreibende, ja alle Menschen gleichermaßen. Allerdings spricht es umgekehrt nicht für unseren Wirtschaftsminister Robert Habeck, wenn er der Kritik an seiner Person und seinem Politikstil – auch gegen vermeintlich harmlose Beleidigungen im Netz -, mit für ihn von dem Dienstleister SO DONE (gegen eine im Erfolgsfall hälftige Beteiligung an der Geldentschädigung) gestellten Strafanzeigen zu begegnen versucht. Laut faz-net vom 20.11.2024 soll es sich seit Beginn der Legislaturperiode bis August diesen Jahres um 805 Strafanzeigen handeln – mehr als von allen anderen Bundesministerinnen und -ministern dieser famosen, jetzt Geschichte gewordenen Ampelkoalition zusammen.

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