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Spitz oder Spitze sind in aller Regel pointierte Aussagen zum Zeitgeschehen. Dies kann, muss aber nicht die Politik betreffen. Es kann auf die Gegenwart oder auch auf die Vergangenheit gemünzt sein. Spitz ist eine Aussage dann, wenn sie sticht, der betreffenden Person oder Personengruppe wehtut, spitze, wenn sie ausgezeichnet formuliert ist und im Idealfall zudem die Wahrheit abbildet. Fi/ündig, wenn der beschriebene Umstand nicht ganz offensichtlich, also erst zu ergründen ist. Und -keit lässt auf unterschiedliche menschliche Eigenheiten/-schaften schließen, wie beispielsweise Eitelkeit, Heiterkeit, Überheblichkeit oder, oder. Alles zusammengenommen eine echte Spitzfindigkeit. In unserer Kolumne ‚Spitz-findig-keit‘ zitieren wir in lockerer Folge jeweils zwei oder drei Aussagen und verschonen dabei auch nicht klassische Denkerinnen und Denker.
Um Denkanstöße zu geben, die Freude am Formulieren zu wecken – nichtzuletzt auch um dem Humor in unserer doch etwas trostloseren Zeit wieder mehr Geltung zu verschaffen. Erhöht das Wohlbefinden. Packen wir es an! Ich sage nicht, wir schaffen das. Aber wir probieren es auf jeden Fall!
Vorbemerkung
Es gibt nach Immanuel Kant auch eine falsche Spitzfindigkeit, die wir uns hier allerdings nicht zu eigen machen wollen. Wer dem dennoch nachgehen möchte – Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren – kann dies hier gerne tun.
Bleiben wir heute einfach noch mal beim vertrauten „Gewerbe“ der Bürgermeister. Nachdem letzten Sonntag Bürgermeisterinnen in der Überzahl waren, geht es heute ausschließlich um Männer – ganz ohne Quote.
1. Spitz-findig-keit
Der Schauplatz liegt in Hessen. Laut Wikipedia ist Frankfurt „… mit 759.224 Einwohnern (31. Dezember 2021) die bevölkerungsreichste Stadt des Landes Hessen und die fünftgrößte Deutschlands.“ Im Ballungsraum leben mehr als 2,3 Millionen Menschen, in der „Metropolregion Frankfurt/Rhein-Main“ etwa 5,8 Millionen.
Als Person geht es um Dr. iur. Walter Wallmann, der von 1977 bis 1986 der erste gewählte Frankfurter CDU-Oberbürgermeister war. Danach in Bonn von Juni 1986 bis April 1987 der erste Bundesumweltminister – Vorgänger von Klaus Töpfer – und anschließend vier Jahre lang der erste christdemokratische hessische Ministerpräsident in Wiesbaden. Ein sehr guter Freund von mir durfte ihm auf beiden letzteren Stationen assistieren.
Faz-net vom 16.6.2022 (hinter Schranke) über diese integre Persönlichkeit: „Wallmann war klar, dass der Auftrag zur politischen Führung in der Demokratie vom Bürger nur auf Zeit erteilt wird. Ein öffentliches Amt dürfe von Politikern und Parteien nicht als „Selbstbedienungsladen“ missbraucht werden, war seine Überzeugung. Die Politiker hätten dem Gemeinwesen und dem Bürger zu dienen, gewiss nicht in erster Linie sich selbst. Bedenke das Ende, die Konsequenzen, dabei geht es um ein inneres Kontrollverfahren, das individuell so gut wirkt wie gesellschaftspolitisch. Es geht darum, Macht zu bändigen.“
FAZ-Herausgeber Carsten Knop sieht, gerade auch nach den aktuellen Vorkommnissen, die Zeit gekommen, um Walter Wallmann in Frankfurt eine Straße zu widmen. Er schlägt vor, den Schaumainkai in Walter-Wallmann-Ufer umzubenennen. Ich fände die Wortspielerei lustig, wenn es dann über viele neue Wallboxen am Walter-Wallmann-Ufer zu berichten gäbe.
2. Spitz-findig-keit
Peter Feldmann, sein Nach-, Nach-, Nach-, Nach-, Nachfolger als Frankfurter OB, hat intensiv daran gearbeitet, dass man sich in seinem Fall künftig über eine Straßenbenennung keine Gedanken machen muss. Dem Skandal um die Arbeiterwohlfahrt (AWO), besser den Folgen für den OB, widmet faz-net vom 6.7.2022 erneut einen Kommentar ihres Herausgebers (hinter Schranke): „Alles an diesem Rückzug eines Oberbürgermeisters, der sich in die Geschichtsbücher eintragen will, während er sich durch Gerichtsakten eines Strafprozesses kämpfen muss, wirkt eigenartig: Hier geht jemand, der vor keinem Trick zurückgeschreckt ist, sich am Ende aber selbst ausgetrickst hat – und sein Bild in der Öffentlichkeit in der Agonie seiner Amtszeit weiter beschädigen wird.“
Seine attraktive Frau, die mit ihrem Dienstwagen und höheren Gehalt als Leiterin eines Kindergartens sozusagen der Auslöser des Geschehens war, ist ihm zwischenzeitlich verlaufen. Kein vertrauenweckendes Zeichen – obwohl zur schützenswerten Privatsphäre gehörend -, wenn die Ehe nicht hält, was sie verspricht. Aber vielleicht braucht er gar keine lange, breite „Gedenkstätte“, denn Frankfurt besitzt in den Randbezirken ja noch etliche Feldwege.
3. Spitz-findig-keit
Von Hessen nach Baden-Württemberg. Boris Palmer, der grüne Tübinger OB, liegt seit geraumer Zeit im Clinch mit seiner Partei – obwohl die Mitgliedschaft (sich) gerade (aus)ruht. Er ist streitbar, manchmal etwas zu – und vor allem ausdauernd kämpferisch. Im Gegensatz zu Herrn Feldweg artikuliert er seine jüdischen Wurzeln. Und führt gewissermaßen die Tradition seines Vaters Helmut fort, der sich als der Rebell vom Remstal einen Namen gemacht und unter anderem in weit über 250 Bürgermeister-Wahl-Listen im Ländle eingeschrieben hat.
Beim SWR vom 19.11.2021 kann man unter dem Titel „Der geniale Egomane Palmer spaltet die Grünen“ allerlei über diese impulsive Persönlichkeit lesen, aber auch hören und bei einem „himmlischen Dinner“ zusehen. Nachdem er sich an der Urwahl der Grünen nicht beteiligt – so der letzte Stand -, wird er wohl als unabhängiger Kandidat mit guten Chancen ins Rennen um das wunderschöne Tübinger Rathaus gehen. Für ihn wäre es die dritte Amtszeit.
Die OB-Wahl findet am Sonntag, 23. Oktober 2022, statt. Der zweite Wahlgang – allerwahrscheinlich notwendig – wäre am 13. November. Schriftliche Bewerbungen sind möglich ab dem 23. Juli bis zum 26. September punkt 18:00 Uhr.
Nachtrag vom 23.10.2022
Die Entscheidung fällt schon im ersten Wahlgang: Boris Palmer bleibt der Hausherr im Tübinger Rathaus. Wie faz-net bereits um 19:37 Uhr berichtete, setzte er sich mit einer absoluten Mehrheit von 52,4 Prozent der Stimmen durch. „Seine Konkurrentin Ulrike Baumgärtner (Grüne) kam auf 22 Prozent … , Sofie Geisel (SPD, von der FDP unterstützt) auf 21,4 Prozent der Stimmen. Rund 69.000 Tübingerinnen und Tübinger waren wahlberechtigt.“ Wie die Stadtverwaltung verlautet, lag die Wahlbeteiligung bei 62,6 Prozent; die „… dritte Amtszeit von Boris Palmer beginnt am 11. Januar 2023 und endet am 10. Januar 2031.“
Der politisch kluge Kopf hat mit der fein austarierten Strategie – alles auf den ersten Wahlgang setzend – und einer sparsam-zurückhaltenden Kommunikation dem Wahlvolk im Grunde genommen keine andere Wahl gelassen. Wenn er, älter und (noch) klüger geworden, in den nächsten Jahren seine Impulsivität in den Griff bekäme, bräuchte niemand diesen (Wahl)Tag bereuen.
Vorher schauen wir uns hier aber noch an, wie es mit der EU-Taxonomie ausgegangen ist.
#PreppoKompakt
„Bedenke das Ende“ – Walter Wallmann starb am 21. September 2013, drei Tage vor seinem 81. Geburtstag. Seine begründete Warnung vor der Selbstbedienungsmentalität von Amtsträgerinnen und -trägern wurde offensichtlich nicht mal mehr in Frankfurt gehört. Und erst recht nicht in Berlin, was man – nur sehr, sehr wohlmeinend – mit der nach Wegzug aus Bonn größeren räumlichen Distanz erklären könnte. Wer mag, kann sich bei Wikipedia über zwei „Affären“ informieren, die 1989/90 in Wallmanns Amtszeit als hessischer Ministerpräsident fielen. Die eine betraf seinen damaligen Kanzleichef Alexander Gauland, die andere – Schlagwort „Tulpenzwiebelaffäre“ – Gartenarbeiten an seinem Privathaus, die er über die Staatskasse finanziert haben soll. Zu seinem 77. Geburtstag in 2009 wurde Walter Wallmann das Ehrenbürgerrecht der Stadt Frankfurt auf Lebenszeit verliehen.