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Spitz-findig-keit #76

8 minutes

Spitz oder Spitze sind in aller Regel pointierte Aussagen zum Zeitgeschehen. Dies kann, muss aber nicht die Politik betreffen. Es kann auf die Gegenwart oder auch auf die Vergangenheit gemünzt sein. Spitz ist eine Aussage dann, wenn sie sticht, der betreffenden Person oder Personengruppe wehtut, spitze, wenn sie ausgezeichnet formuliert ist und im Idealfall zudem die Wahrheit abbildet. Fi/ündig, wenn der beschriebene Umstand nicht ganz offensichtlich, also erst zu ergründen ist. Und -keit lässt auf unterschiedliche menschliche Eigenheiten/-schaften schließen, wie beispielsweise Eitelkeit, Heiterkeit, Überheblichkeit oder, oder. Alles zusammengenommen eine echte Spitzfindigkeit. In unserer Kolumne ‚Spitz-findig-keit‘ zitieren wir in lockerer Folge jeweils zwei oder drei Aussagen und verschonen dabei auch nicht klassische Denkerinnen und Denker.

Um Denkanstöße zu geben, die Freude am Formulieren zu wecken – nichtzuletzt auch um dem Humor in unserer doch etwas trostloseren Zeit wieder mehr Geltung zu verschaffen. Erhöht das Wohlbefinden. Packen wir es an! Ich sage nicht, wir schaffen das. Aber wir probieren es auf jeden Fall!

Spitz-findig-keit #76.

Vorbemerkung

Es gibt nach Immanuel Kant auch eine falsche Spitzfindigkeit, die wir uns hier allerdings nicht zu eigen machen wollen. Wer dem dennoch nachgehen möchte – Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren – kann dies hier gerne tun.

Wir erinnern uns an den Auftritt von John Denver in Nagoya/Japan, festgehalten in der #75. Und schlagen heute von dort eine Brücke zu seinem US-amerikanischen Landsmann Henry Miller, übrigens auch er, wie Denver, mit deutschen Vorfahren.

1. Spitz-findig-keit

Henry Miller (26.12.1891 bis 7.6.1980) war nie in Japan, obwohl (von 1967 bis 1977 in seiner fünften, der letzten Ehe) mit einer Japanerin – Hiroko Tokuda – verheiratet und mit etlichen Japanern befreundet. Wie er in seinem Buch „Reise in ein altes Land. Skizzen für meine Freunde“, dtv/List München 1981*, in den „Gedanken über den Tod von Mishima“ (S. 81 – 106) beschreibt, zählen dazu „… Schriftsteller, Schauspieler, Filmer, Ingenieure, Architekten, Maler, Sänger, Unterhaltungskünstler, Geschäftsleute, Verleger, Kunstsammler und so weiter.“ (S. 81).

Henry Miller malte auch, sein Werk umfasst mehrere hundert Aquarelle – und lustigerweise gab es laut Wikipedia in den Jahren 1954 und 1968 von ihm zwei Wanderausstellungen, die in japanischen Städten gezeigt wurden.

2. Spitz-findig-keit

Dafür war Miller lange Zeit, annähernd neun Jahre, in Europa – davon ein Jahr in Griechenland – und hat dies literarisch verarbeitet. So in dem Buch „Stille Tage in Clichy“*, dessen englisches Original 1956 in einem Pariser Verlag und auf Deutsch zuerst 1968 im Rowohlt-Verlag, Reinbek bei Hamburg, erschienen ist. Florian Illies hat sich in seinem Buch „Liebe in Zeiten des Hasses“, S.Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2021*, mehrfach auf Henry Millers wechselnde Standorte in Paris bezogen und dessen „Dreiecks“verhältnisse – teils sogar mehr – aus verschiedenen Quellen und Tagebüchern rekonstruiert.

Kathedrale Notre-Dame, ein Pariser (?) Wahrzeichen.

In der Vorbemerkung – statt eines Vorworts – zum Buch, warnt Tony Miller, sein Sohn aus dritter Ehe mit Janina Martha Lepska (1944–1952), davor, es als reine Pornographie zu verdammen. Man müsse „… schon sehr verklemmt und böswillig sein, …“ wolle man darin „… Obszönität oder irgend etwas Unrechtes entdecken.“ (S. 7). Wenn überhaupt pornographisch, dann ohne Bilder – bis auf die schlanke, barbusige Frau, die auf dem Umschlagfoto an Autos vorbei, die Straße entlang läuft. „Clichy“ drückt eben auch das Zeitgefühl, zumindest der Literaten und (Lebens)Künstler beiderlei Geschlechts, im Übergang zur nächsten Katastrophe aus: eine gewisse Entwurzelung und Enttabuisierung sowie Experimentierfreude in Worten und Taten. Vorzeichen für kommendes Ungemach gab es in den 1930er Jahren zuhauf.

3. Spitz-findig-keit

Gesitteter geht es in jedem Fall im Beitrag „Wenn man achtzig wird“ zu, ebenfalls im eingangs erwähnten Buch enthalten (S. 73 – 80). Henry Miller wurde rund 88 1/2 Jahre alt (siehe oben), hätte also fast auch die Neunzig beschreiben können.

Beeindruckend die gewohnt klare, offene Sprache, vor allem aber die gebündelte Lebenserfahrung.

Da wären:

„Wenn du mit achtzig weder Krüppel noch Invalide bist, dich noch bester Gesundheit erfreust, einen weiten Spaziergang und ein gutes Essen (mit allem Drum und Dran) noch zu schätzen weißt, wenn Du noch schlafen kannst, ohne vorher eine Pille zu schlucken, wenn Vögel und Blumen, Berge und Meer dich noch begeistern können, bist du ein Glückspilz und solltest dem lieben Gott morgens und abends auf den Knien danken, daß er dich behütet und bewahrt hat.“ (S. 73).

„Wenn du die Leute noch verscheißern kannst, wenn sich angesichts eines appetitlichen Popos oder eines runden Busens bei dir noch etwas rührt, wenn du dich immer wieder neu verliebst, wenn du deinen Eltern verzeihst, daß sie dich auf die Welt gebracht haben, wenn du gelernt hast, jeden Tag hinzunehmen, wie er kommt, ohne etwas erreichen zu wollen, wenn du vergeben und vergessen kannst, ohne dabei sauer, grämlich oder zynisch zu werden – Mann, dann hast Du es so gut wie geschafft!“ (S. 73).

Zudem ein paar, heute noch gültige Erkenntnisse: Wie

„… daß die Dummen noch dümmer, die Langweiligen noch langweiliger geworden sind.“ (S. 74)

„… uns immer nur die Gegenwart (gehört) und sie zu leben, verstehen die wenigsten.“ (S. 75)

dass außer „… der Liebe … die Freundschaft wohl das Wertvollste (ist), was das Leben uns zu bieten hat.“ (ebenda). Und: „Auf eins habe ich bei allen Freunden … immer bestanden: ihnen gegenüber die reine Wahrheit sagen zu dürfen.“ (S. 76)

zuguterletzt: „Gegen Böses läßt sich ankämpfen, gegen Dummheit ist man machtlos.“ (S. 77).

In Summe:

„Am Leben selber ist nichts auszusetzen. Es ist das Meer, in dem wir treiben. Wir passen uns ihm entweder an, oder wir gehen unter. Doch es steht in unserer Macht als menschliche Wesen, die Wasser des Lebens nicht zu verunreinigen, und den Geist der uns beseelt, nicht zu zerstören.“ (S. 80).

Persönliches

Dieser Henry Miller begleitet mich schon seit Ende 1982 – nachdem ich im Radio den Beitrag gehört und mir das Buch besorgt hatte. Offensichtlich habe ich auch die fünf anderen Bücher gekauft: Wendekreis des Krebses* und des Steinbocks, Sexus, Plexus, Nexus. Aber nur fürs Regal, wo ich sie kürzlich eng beieinander – im weitgehend jungfräulichen, das heißt ungelesenen Zustand – wiederentdeckt habe. Interessanterweise hat das Vorwort zum „Wendekreis des Krebses“ 1934 eine gewisse Anaïs Nin geschrieben. Sie war nicht nur Millers wichtigste Förderin und Muse, auch seine bekannteste Geliebte, deren Anzahl, nebenbei bemerkt, die Zahl seiner Ehefrauen wohl um ein Vielfaches übertroffen haben dürfte.

Über „Wenn man achtzig wird“ konnte ich übrigens 2009 in der Vorweihnachtszeit bei einem Wohltätigkeitsabend zugunsten der gemeinnützigen DKMS „Wir besiegen Blutkrebs“ referieren und daraus vorlesen. Als eine Art „Nebenprodukt“ haben sich meine Söhne in deren Tübinger Stammzellenspenderdatei registrieren lassen, wodurch 2020 ein wertvolles Leben gerettet werden konnte.

Widmung

Den treuen Freunden Christine und Pierre in Saint-Cergues gewidmet. Sie haben die Kathedrale Notre-Dame dieser Tage für uns wunderbar ins Bild gesetzt, zudem für Vater hier eine Kerze angezündet. Mein Vater hat ganz entsprechend Millers Wahlspruch annähernd 94 Jahre gelebt: „Immer froh und heiter!“ Und dann „Finis“ (wie oben, S. 80).

Und hier geht es weiter zum „Wendekreis des Irrsinns“.

#PreppoKompakt

Man lernt nie aus. Und Henry Miller hält dafür so manches parat. Wie auch Christine und Pierre. Für mich zum Verwechseln ähnlich, steht die abgebildete Notre-Dame nicht in Paris – so ihr Hinweis -, sondern im Norden Frankreichs in Amiens an der Somme. „Majestätisch. Grandios. Überwältigend.“ So im offiziellen Internetauftritt von Atout France, der Französischen Zentrale für Tourismus, beschrieben. Mit 200.000 Kubikmetern Raumvolumen auf rund 7.700 Quadratmetern überbauter Fläche zudem doppelt so groß wie Notre-Dame in Paris.

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