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Stefan Zweig faßt in der ersten, 1927 erschienenen Ausgabe seiner „Sternstunden der Menscheit„* fünf ganz und gar unterschiedliche geschichtliche Vorgänge zusammen. Im Vorwort spricht er von „… dramatisch geballten, … schicksalsträchtigen Stunden, in denen eine zeitüberdauernde Entscheidung auf ein einziges Datum, eine einzige Stunde und oft nur eine Minute zusammengedrängt ist …“. Er „… habe sie so genannt, weil sie leuchtend und unwandelbar wie Sterne die Nacht der Vergänglichkeit überglänzen.“ Dazu gehören „Die Weltminute von Waterloo“,“Die Entdeckung Eldorados“ oder „Der Kampf um den Südpol“. Heute am Tag der Deutschen Einheit durften die Anwesenden im Stauffenberg-Schloss in Albstadt-Lautlingen ebenfalls eine Art Sternstunde miterleben, als der Botschafter der Republik Ungarn in Deutschland, Dr. Péter Györkös, seine Rede hielt. Diese gut besuchte Traditionsveranstaltung der CDU-Albstadt wurde zum ersten Mal im Kern des Festaktes durch einen ausländischen Gastredner und Zeitzeugen bestritten.
Zur Person des Botschafters Dr. Péter Györkös
Seit November 2015 in der Bundesrepublik Deutschland. Zuvor von 2010-2015 Leiter der Ständigen Vertretung Ungarns bei der Europäischen Union in Brüssel. Von 2007-2009 Botschafter in der kroatischen Hauptstadt Zagreb. Und von 2004-2006 Leiter des Referats Europa im Amt für EU-Angelegenheiten im Ministerpräsidialamt in Budapest. Von 1988 bis 2004 verschiedene Positionen im ungarischen Außenministerium. Seine Tätigkeit führte ihn immer wieder in den deutschsprachigen Raum und die Beneluxländer (sein ausführlicher Lebenslauf ist hier einzusehen).
Seine Kernbotschaften im Wortlaut
„Historisch gesehen vollzog sich die Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 in Windeseile. Es waren noch keine 13 Monate vergangen, nachdem der erste Stein der Berliner Mauer fiel. Er war nicht gefallen, sondern wurde rausgeschlagen. Von den Ungarn, auf ungarischem Staatsgebiet. Am 11. September 1989. Und das war kein Zufall.
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Die dramatisch beschleunigten Ereignisse im Jahr 1989, die zum Fall der Berliner Mauer führten, hatten drei Hauptakteure. Uns, Ungarn. Sie, Deutsche. Und einen sowjetischen Staatschef, der kürzlich verstorben ist und an dessen Beerdigung nur ein westlicher Staatschef persönlich teilgenommen hat – der Ministerpräsident Ungarns. Für Ungarn und Deutsche waren es ihre Taten, die den Lauf der Geschichte veränderten. Bei Gorbatschow waren es die Taten, die er unterlassen hat.
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Die Reformen von Gorbatschow führten zu den schnellsten Veränderungen außerhalb der Sowjetunion … in Ungarn. … Er griff nicht ein, als am 16. Juni 1989 auf dem Heldenplatz vor hunderttausend Menschen der Abzug der sowjetischen Truppen gefordert wurde. Die sowjetischen Soldaten blieben in der Kaserne, als am 19. August 1989 die Grenze von den Organisatoren des Paneuropäischen Picknicks in Sopron über Stunden geöffnet wurde und nach den Worten von Angela Merkel der größte deutsche Exodus seit dem 13. August 1961 stattfand, bei dem fast 700 Ostdeutsche nach Westdeutschland gingen. Die sowjetische Armee griff auch dann nicht ein, als Bundeskanzler Kohl Gorbatschow telefonisch mitteilte, dass die Ungarn die Grenze für DDR-Flüchtlinge bald völkerrechtlich wirksam öffnen würden. Gorbatschow warf nicht nur die Breschnew-Doktrin über Bord, sondern sagte dem Bundeskanzler sogar, dass „die Ungarn gute Leute sind“.
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Nur wenige Wochen nach der Öffnung der Grenze zu Ungarn – die am 9. November zum Fall der Mauer führte – haben ca. 52.000 Ostdeutsche die DDR über Ungarn Richtung BRD verlassen. Eine Reihe von Demonstrationen in Dresden und Leipzig begann. Sie marschierten unter dem Motto „Wir bleiben hier“ und vergrößerten den Spalt auf ungarischem Gebiet zu einem immer größeren Tor. Die Deutschen nahmen ihr Schicksal selbst in die Hand.
Die Entschlossenheit der Ostdeutschen und die Entschlossenheit von Helmut Kohl führten nur 13 Monate später zur Wiedervereinigung Deutschlands. Wir Ungarn sind natürlich stolz darauf, dass wir den Weg dafür geebnet haben. Wir sind stolz darauf, dass der Boden unter dem Brandenburger Tor nach den Worten Helmut Kohls „ein Stück ungarischer Boden sei“. Aber am stolzesten bin ich – wenn ich mir eine sehr subjektive Bemerkung erlauben darf – darauf, dass die Unterstützung für die deutsche Wiedervereinigung bei uns Ungarn am größten war. Größer, als bei den Deutschen.“
Sein Appell an uns Deutsche
„Diese historischen Vorläufer und Erfahrungen verblassen heute. Die mediale und oft auch politische Propaganda von „über Ungarn schlechtes oder gar nichts“ leugnet oder verschleiert nicht nur die Fakten, sondern hat auch eine Art Entfremdungsspirale in Gang gesetzt. All dies in einer Zeit, in der unser gemeinsames Europa vor Herausforderungen steht, die es seit 1945 nicht mehr gegeben hat, und in der Zusammenhalt und Zusammengehörigkeit die einzigen Mittel und Garantien dafür sind, dass wir nicht kollektiv die Verlierer des neuen Jahrhunderts werden.
Und wer, wenn nicht wir Ungarn und Deutschen, sind es uns und Europa schuldig, unsere Solidarität zu beweisen und zu sichern. Der Tag der Deutschen Einheit verpflichtet uns dazu.
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Aus diesem Grund glaube ich auch, dass die Ungarn und die Deutschen die Botschaft des 11. September 1989 und des 3. Oktober 1990 verstehen und begreifen. Wir haben gemeinsam Geschichte geschrieben und tragen eine gemeinsame Verantwortung für die Zukunft.“
Ungarischer Mut zu Klar- und Wahrheit
„Ungarn, die Ungarn haben 1989 (auch) das Unaussprechliche, das Unsagbare gesagt. Dafür gab es in der Vergangenheit Beispiele und dafür wird es auch in Zukunft Beispiele geben. Das ist nicht immer selbstverständlich und nicht immer leicht zu akzeptieren. Aber wir Ungarn sind gegen die Eindimensionalität.“
Grenzzäune
„2015 verstand zum Beispiel kaum jemand, warum das zauneinreißende Ungarn, einen Zaun baut. Es hat Jahre gedauert und wird noch Jahre dauern, um den Unterschied zwischen dem Eisernen Vorhang, der gegen die eigene Bevölkerung errichtet wurde, und dem Grenzzaun, der die eigenen Bürger, und die zwei größten Errungenschaften der europäischen Integration, den Schengen-Raum und den Binnenmarkt schützt, zu verstehen.“
Eigene nationale Zuständigkeiten
„Wir sagen, dass wir bei den Zuständigkeiten, die nicht von den Mitgliedstaaten an die Europäische Union delegiert werden, an unseren nationalen Positionen festhalten werden, sei es bei der Einwanderung, der Gesellschaftspolitik, der Familie, der Kindererziehung. Wenn Sie so möchten, wir stehen dazu, dass wir konservativ sind.“
Flüchtlinge und Asyl
„Wir sagen, wir nehmen Flüchtlinge auf, für die wir das erste sichere Land sind, aber wir helfen allen anderen Migranten, Menschen in Not, in ihrem eigenen Land, in ihrer Region, ‚vor Ort‘, denn wir können nicht unlösbare Probleme in die EU importieren, sondern müssen unsere Hilfe eher exportieren. Wir wagen die Behauptung, dass die EU immer noch reich, aber schwach ist, und dass sie sich anstelle von internen ideologischen Debatten auf die Stärkung ihrer eigenen Souveränität konzentrieren muss, die eine Reihe von Aufgaben vom Schutz der eigenen Grenzen bis zur Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit bietet.“
Sparsamkeit und anderes
„Wir glauben, dass „das Auto“ nicht nur eine Vergangenheit, sondern auch eine Zukunft hat. Wir nehmen die Winnetou-Romane nicht aus dem Bücherregal. In guter Anlehnung an die schwäbische Hausfrau sagen wir, dass wir keine Schuldenunion wollen, weil wir unsere Zukunft nicht auf Kosten künftiger Generationen oder der Steuerzahler anderer Mitgliedstaaten planen wollen. Wir müssen das, was wir verteilen wollen, erst einmal erwirtschaften. Wir sehen die europäische Integration als ein positives Projekt, nicht als ein Projekt, das durch eine negative Formel der gemeinsamen Verschuldung zusammengehalten wird.“
Unterschiedliche Perspektiven und Positionen
„Und ja, wir sprechen es aus, dass wir nicht immer alles aus der gleichen Perspektive sehen, ob es nun um Krieg, Wirtschaftssanktionen oder Welthandel geht. Wir argumentieren sogar von sehr unterschiedlichen Positionen aus, was die Interpretation von Populismus und Nationalismus angeht. Das heißt, wenn sich jemand findet, der bereit ist, sich auf eine Debatte einzulassen, anstatt einseitige Kritik oder gar Verleumdung zu üben. Wir wollen keinen europäischen Bundesstaat, aber wir wollen eine erfolgreiche und starke Union erfolgreicher und starker Mitgliedsstaaten. Wir sagen auch: Wenn das Erbe Helmut Kohls Bestand hat und wir auf Augenhöhe verhandeln und handeln, dann wird Europa die richtigen Lösungen finden.“
Widmung
Herrn Bundestagsabgeordneten Thomas Bareiß und Herrn Roland Tralmer, Vorsitzender CDU-Stadtverband Albstadt, sowie allen Helferinnen und Helfern, die diesen eindrücklichen Festakt mit Dr. Péter Györkös ermöglicht haben.
Und hier geht es wieder spitzfindig zu.
#PreppoKompakt
Eine richtige Sternstunde, weil für uns Deutsche schicksalsträchtige Daten gekonnt eingeordnet und erläutert wurden. Weil mit offenem Wort für Verständnis geworben und zugleich vor einer sich drehenden „Entfremdungspirale“ im deutsch-ungarischen Verhältnis gewarnt wurde. Ein Plädoyer für Kritikfähigkeit und die Bereitschaft Dinge zu diskutieren – und gegen eine pauschale Voreingenommenheit. Sowie ernstzunehmende Signale eines kompetenten Mannes, der aus seiner Wahrnehmung von einer allgemeinen Regel in den deutschen Medien und bei politischen Parteien spricht, über Ungarn schlecht oder gar nicht zu berichten. Zudem sein klares Bekenntnis zu einer „europäischen“ Sparsamkeit, das wir kürzlich hier auf Bundesebene vermißt und auf der kommunalen Ebene gelobt hatten.
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