Spitz-findig-keit #49

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Spitz oder Spitze sind in aller Regel pointierte Aussagen zum Zeitgeschehen. Dies kann, muss aber nicht die Politik betreffen. Es kann auf die Gegenwart oder auch auf die Vergangenheit gemünzt sein. Spitz ist eine Aussage dann, wenn sie sticht, der betreffenden Person oder Personengruppe wehtut, spitze, wenn sie ausgezeichnet formuliert ist und im Idealfall zudem die Wahrheit abbildet. Fi/ündig, wenn der beschriebene Umstand nicht ganz offensichtlich, also erst zu ergründen ist. Und -keit lässt auf unterschiedliche menschliche Eigenheiten/-schaften schließen, wie beispielsweise Eitelkeit, Heiterkeit, Überheblichkeit oder, oder. Alles zusammengenommen eine echte Spitzfindigkeit. In unserer Kolumne ‚Spitz-findig-keit‘ zitieren wir in lockerer Folge jeweils zwei oder drei Aussagen und verschonen dabei auch nicht klassische Denkerinnen und Denker.

Um Denkanstösse zu geben, die Freude am Formulieren zu wecken – nichtzuletzt auch um dem Humor in unserer doch etwas trostloseren Zeit wieder mehr Geltung zu verschaffen. Erhöht das Wohlbefinden. Packen wir es an! Ich sage nicht, wir schaffen das. Aber wir probieren es auf jeden Fall!

Spitz-findig-keit #49

Vorbemerkung

Es gibt nach Immanuel Kant auch eine falsche Spitzfindigkeit, die wir uns hier allerdings nicht zu eigen machen wollen. Wer dem dennoch nachgehen möchte – Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren – kann dies hier gerne tun.

Hier und heute geht es dafür um mit einem Schlag geplatzte Illusionen, im großen Umfang, wie auch im persönlichen Umfeld.

1. Spitz-findig-keit

Vor einer Woche wurde ich von meiner Freundin Lidia gefragt, warum die Russen die Ukraine angreifen wollen, warum in den Nachrichten ständig von Krieg in Europa gesprochen wird? Ich bezweifelte, ob es eine einfache, gute Antwort darauf gäbe und ich diese liefern könne, wagte aber dennoch folgenden Erklärungsversuch.  

1991 ist die UdSSR/Sowjetunion auseinandergefallen und auch der sog. Warschauerpakt – das Gegenstück zur westlichen Verteidigungsgemeinschaft NATO – hat sich aufgedröselt. Die gleichzeitige NATO-Erweiterung auf jetzt 30 Mitgliedstaaten ist Wladimir Putin „ein Dorn im Auge“. Er fühlt sich dadurch bedroht und möchte konkret die Zusage, dass die Ukraine niemals NATO-Mitglied wird. Gleichzeitg gibt es im Osten der Ukraine „Separatisten“, die gerne von der Ukraine unabhängig würden. Auch Waffen sind im Spiel und trotz vereinbarter Waffenruhe kommt es immer wieder zu Zwischenfällen. So in der „Donezker Volksrepublik“, wo Menschen deshalb aus Angst über die Grenze nach Russland fliehen. Wer „zündelt“ bleibt unklar, vermutlich sind es beide Seiten.  

Die Stimmung wird sowohl in Rußland als auch in der Ukraine von den staatsnahen Medien angeheizt. Insofern ist es ein Pulverfass, das in die Luft fliegen kann. Was mich aber optimistisch stimmt: Putin (mein Jahrgänger) ist körperlich und geistig gesund – d.h. er weiß um die Folgen eines Krieges -, kennt Deutschland gut und seine Regierungszeit dauert nicht ewig. Emmanuel Macron hat es geschafft, ihn zu einem Gipfeltreffen mit Jo Biden zu bewegen. Und solange miteinander gesprochen wird, hat der Frieden eine Chance.

Kurz, ein Krieg in Europa schien so weit weg zu sein! Auch bin ich eben nicht der Leibarzt von Putin.

Jasper von Altenbockum bescheinigt gestern in faz-net (hinter Schranke) auch unserer gegenwärtigen Politikergeneration in harten, aber zutreffenden Worten ausgeprägte Realitätsferne. „Der deutsche Idealismus erweist sich als historischer Irrtum, als das moralische und materielle Versagen einer Generation. Ein Neuanfang deutscher Sicherheitspolitik ist kaum möglich. Nicht mit diesen Politikern.“

Frieden schaffen ohne Waffen, wer dagegen aufbegehrte wurde als hinterwäldlerisch beschimpft. „Die deutsche Debatte wähnte sich ihrer Zeit voraus und versteckte sich hinter der deutschen Geschichte. In Wahrheit aber waren die Zweifler die Realisten und die deutschen Ideale die Ausgeburt eines provinziellen Denkens.“ So sein Kommentar.

2. Spitz-findig-keit

„Im schönsten Wiesengrunde“, ein wunderbares deutsches Volkslied gesungen von russischen Soldaten am Gendarmenplatz inmitten von Berlin bei einem Friedenskonzert im August 1948. Ein Lied das auch meinem Vater viel bedeutete, der kürzlich verstorben ist und bei dessen Trauerfeier vor 10 Tagen es auf der Orgel gespielt wurde.

Nun nach dem russischen Überfall auf die Ukraine ein ganz neues Empfinden, das bei mir mitschwingt: Die Entäuschung über die eigene Fehleinschätzung, die Traurigkeit über das ausgelöste Leid. Zugleich eine Art Wut auf Putin, der sich als Aggressor damit in die Tradition Hitlers und auch Stalins stellt, fast acht Jahrzehnte nach deren Abgang. Sicherlich auch präsent, wenn ich mir das Lied Moskauer Nächte (hier präsentiert) oder das Ballett Schwanensee (hier verlinkt) künftig anhöre und -schaue.

3. Spitz-findig-keit

Trost benötigen wir alle, auch um widerstandsfähig, heute sagt man „resilient“ zu bleiben/zu werden. Eine schier unerschöpfliche Quelle des Trostes – nicht nur für unsere genannte Trauerfeier – ist das Lied „Von guten Mächten“, dessen Text auf Pastor Dietrich Bonhoeffer – geboren am 4. Februar 1906 in Breslau – zurückgeht. Er hat ihn zu Weihnachten 1944, eingesperrt in der Gestapo-Zentrale in der Prinz-Albrecht-Straße, für seine Familie verfaßt. Es war einer der letzten Texte die er schrieb, bevor er aus Berlin weggebracht wurde. Am 9. April 1945 wurde Bonhoeffer, der zum Verschwörerkreis des Attentats vom 20. Juli 1944 gezählt wird, im Konzentrationslager Flossenbürg, nahe Weiden in der Oberpfalz, auf Anordnung Adolf Hitlers hingerichtet.

Dietrich Bonhoeffer kann nicht nur trösten, sondern auch Vorbild sein, „… der Nation …, der Jugend dieses Landes vor allem.“ So zu lesen im Klappentext des eindrücklichen Buches von Renate Bethge, Dietrich Bonhoeffer, Eine Skizze seines Lebens*, Gütersloher Verlagshaus 2004. Längere Biographien haben ebendort ihr Mann Eberhard Bethge (Dietrich Bonhoeffer, Theologe – Christ – Zeitgenosse*, 8. Auflage 2004, 1132 Seiten) und Charles Marsh (Dietrich Bonhoeffer, Der verklärte Fremde*, 1. Auflage 2014, 592 Seiten) publiziert. Ein zeitloses Vorbild, gerade auch heute und zukünftig.

Widmung

Einer lieben Freundin gewidmet, die heute ihren Geburtstag feiert. Barbara, ein feiner Mensch mit gesundem Verstand, Bildung, Stil und ansatzweise ausgesprochen polyglott.

Und hier geht es weiter – das halbe Hundert ist voll.

#PreppoKompakt

Irgendwie kommt es einem vor, wie ein Rückfall in die Steinzeit. An wem soll man sich orientieren, mit wem das provinzielle Denken überwinden? Wir brauchen nicht nur tote, viel mehr noch lebende Vorbilder.

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2 Antworten

  1. Ihre Erklärung, für einen Menschen wie mich, die sich recht wenig mit Politik auseinandersetzt, sehr gut. Danke dafür.

    Nein, der Leibarzt von Putin sind Sie nicht, ich bin mir sicher, auch dieser konnte nicht wissen, wie geisteskrank Putin wirklich ist!

    Die Angst vor Corona seit Tagen wie weggeblasen,
    die Angst vor dem Krieg präsent,
    die Sorge um die Menschen, die auf beiden Seiten
    unnötigerweise ihr Leben lassen,
    dafür um so größer.

    Wir haben 2022 und nur 1969 Kilometer von meinem Wohnort entfernt flüchten Mütter mit ihren Kindern –
    sie flüchten ohne ihre Männer, Väter, Brüder, ins Ungewisse.

    Nur wenige Flugstunden von uns entfernt sterben Menschen in EUROPA durch Waffen.

    Bis vor wenigen Tagen noch unvorstellbar!

    Weltfrieden!
    Weltfrieden, wäre das schönste Geschenk an die Menschheit ever.

    Wir hoffen das Beste.
    Lidia

    „Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin“
    Carl August Sandburg (1878 – 1967)

  2. Apropos Dietrich Bonhoeffer. Die ausgezeichnete Biografie von Ferdinand Schlingensiepen nicht zu vergessen, die 2005 im Verlag C.H.Beck erschienen ist!

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