Stoische Gelassenheit – heute so wichtig

Apropos stoische Gelassenheit. Rolf Dobelli leitet in der NZZ vom 7.11.2020 sieben Punkte ab, die wir in unserer durch Corona geprägten Gegenwart von den Stoikern des alten Roms übernehmen können. Wir müssen es nur wollen.

Fälschlicherweise wird eine Art Quintessenz dabei immer wieder dem württembergischen Theologen/Pietisten Christoph Friedrich Oetinger aus dem 18. Jahrhundert in den Mund gelegt – so auch auf unserem Beitragsbild. Als Teil seines Gelassenheitsgebets wurde dieser prägnante Wunsch an den lieben Gott aber von dem US-amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr in den 1930/40er Jahren in die Welt gesetzt.

„God, grant me the serenity to accept the things I cannot change, Courage to change the things I can, And wisdom to know the difference.“

Stoische Gelassenheit - heute so wichtig

Von den Stoikern Gelassenheit lernen

Epiktet gehörte im antiken Rom, ebenso wie Marc Aurel und Seneca, zu den Stoikern. Allerdings war er nicht wie ersterer Kaiser/Cäsar oder wie letzterer Geschäftsmann, sondern ein freigelassener Sklave. Seine Lebenszeit datiert auf 50 bis 130 n. Chr.

Epiktet war leidensfähig und gelassen und als Philosoph „… rastlos der Gesellschaft verpflichtet …“ (S. 8). „Er war bettelhaft arm und voll souveräner Gleichgültigkeit gegen alles, was das Sinnenleben verschönt. Kein Wunder bei einem Manne, für den nach Marc Aurels Bericht der Mensch nichts als ein Seelchen war, mit einem Leichnam beladen.“ (S. 14). Sein Denkspruch und Vermächtnis am Lebensende, „Ertrage und entsage!“ (S. 15). So nachzulesen bei Epiktet, Handbüchlein der Ethik, mit 53 kurzen Kapiteln und einer Einleitung von Ernst Neitzke, Reclam Universal-Bibliothek Nr. 2001, Ausgabe Stuttgart 1977.

In sieben Punkten zu stoischer Gelassenheit

1. Aufhören ständig zu lamentieren

„Lamentieren ist ineffizient. Das Coronavirus, dieses winzige Paket aus RNA und Eiweissen, kümmert sich einen Dreck um unsere Meinungen und Gefühle. Wir können das Virus nicht wegwünschen.“

Aus stoischer Sicht gibt es Dinge, die wir beeinflussen können und Dinge, nämlich die allermeisten, die sich unserem Zugriff entziehen. Sich um Dinge sorgen, die ausserhalb unserer Kontrolle liegen, ist total nutzlos. „Also: Tun wir, was wir können (Masken, Social Distancing, Home-Office), ignorieren wir den unkontrollierbaren Rest, und geben wir uns Mühe, innerhalb unseres kleinen Einflussbereichs trotz Covid-19 produktiv und professionell zu bleiben.“

2. Akzeptieren, dass man kein größeres Wissen zu Covid-19 hat als Experten

„Ihr Hirn – gerade wenn Sie von Natur aus zum Nachdenken neigen – ist ein wahrer Meinungsvulkan. Bringen Sie ihn zum Schlafen. Die Stoiker hätten nicht nonstop über Covid-19 geredet, sie hatten Nützlicheres zu tun. …

Meinungen sind wie Nasen: Jeder hat eine. Wir halten sie selbstverliebt in den Wind und tun so, als könnten wir die Zukunft erschnüffeln. Sparen Sie sich diese Wichtigtuerei. Die Wahrscheinlichkeit, dass Ihre Meinung du jour ins Schwarze der Wahrheit trifft, ist verschwindend klein.“

3. Abstand halten zu Covid-19 – auch im übertragenen Sinne

„Aus der Distanz werden Sie feststellen: Die bestehende Situation ist weder neu noch permanent. Frühere Generationen haben weit schlimmere Pandemien überstanden. Seit dreitausend Jahren suchen uns Seuchen regelmässig heim: die Justinianische Pest (541), … der Schwarze Tod (1347–1351), … die Spanische Grippe (1918), Aids (seit 1981), Sars (2002). Es ist nicht einfach, sich aus dem Gravitationsfeld des Augenblicks zu reissen. Versuchen Sie es trotzdem. Über einige Generationen betrachtet, sind diese paar Monate Covid-19 ein Klacks.“

4. Großzügig sein

„Die Erfahrung zeigt: Meistens findet das Ende der Welt nicht statt. Wir sind gut aufgestellt. Wir durchleben die gegenwärtige Pandemie mit einem fetteren Finanzpolster und einem tieferen Wissen als jede andere Gesellschaft zuvor.“

Und wir können es uns heute leisten, Arbeitslose zu unterstützen, wenn nötig über Jahre. Da Erfolg/Misserfolg, Glück/Pech weitestgehend ausserhalb unserer persönlichen Kontrolle liegen, ist das gezahlte Arbeitslosen-/Kurzarbeitergeld auch von der Weltanschaung der Stoiker gedeckt.

„Klar: Ein fiskalischer Eingriff der derzeitigen Grösse wird uns vermutlich zukünftiges Wachstum kosten, langfristig vielleicht sogar Inflation bescheren … , aber sie wird uns nicht umbringen.“

5. Covid-19 den richtigen Platz im Leben zuweisen

„Nicht nur als Gesellschaft, auch individuell haben die meisten von uns Schlimmeres erlebt (und werden Schlimmeres erleben) als ein Partyverbot, Fussball-Geisterspiele, Homeschooling oder beschlagene Brillengläser über der Maske.“

6. Im Grunde genommen leben wir schon immer mit einer Pandemie, genannt der Tod

„Selbst wenn Sie – Gott bewahre – an Covid-19 sterben müssten, hätten Sie vermutlich länger und besser gelebt als alle Ihre Vorfahren der letzten tausend Generationen. Wir vergessen, dass wir den Tod stets in uns tragen. Er ist Teil unseres Lebens.“

7. Selbst im strengsten Lockdown sind unsere Gedanken immer noch frei

Selbst ein Sklave ist frei im Wichtigsten, nämlich in seinen Gedanken. Niemand kann ihm und auch uns diese Freiheit rauben. Wie haben wir doch früher während unserer Schulzeit gesungen: „Es bleibet dabei, die Gedanken sind frei“, hier im (Volks)Lieder Archiv nachzuempfinden und nachzulesen (von Georg Nagel, mit Angaben auch zur Herkunft des Liedes aus der Schweiz und Süddeutschland, zu seiner breiten Rezeption sowie zum politischen Gewicht).

Nimmt man all dies zusammen, steht einer entspannten Gelassenheit nichts mehr im Wege. Einen nicht unwesentlichen Beitrag hierzu leistet die feine Sprache Rolf Dobellis, mit der er uns die Stoiker gekonnt nahe bringt.

Mit dem Zauber der Poesie zu stoischer Gelassenheit

Dieses Prädikat bezüglich der Sprache verdient auch Christine Wunnicke mit ihrem neuesten Buch, Die Dame mit der bemalten Hand*, erschienen im Berenberg Verlag, Berlin 2020. Sie ist die geborene Erzählerin.

Ihre Erzählung beginnt im Jahre 1764. Hauptpersonen sind Musa al-Lahuri aus Jaipur und Carsten Niebuhr aus dem Bremischen, beide gestrandet auf Elephanta, einer Insel vor Bombay. Wobei Niebuhr von Göttingen aus im Team zu sechst gestartet, der letzte Überlebende war. Seine Mitreisenden hatte das Fleckfieber nach und nach hinweggerafft. Musa und Niebuhr, zufällig beide Astronomen, die mit einem Astrolabium in der Lage waren, den nächtlichen Himmel zu beobachten und Sternpositionen zu berechnen. Darunter auch die vom Astronomen aus Jaipur als „Dame-mit-der-bemalten-Hand“ umschriebene Kassiopeia.

Zur Rolle von Zufällen

DerStandard vom 17.8.2020 hatte seine Leserinnen und Leser in einer Kolumne nach dem Zufall gefragt und eine rege Beteiligung hervorgerufen. Eine der Antworten bestand aus dem Albert Einstein zugeschriebenen Zitat: „Der Zufall ist Gottes Art anonym zu bleiben“.

Wir erinnern uns dabei auch an die Göttin mit den sieben freien Wünschen, von der Amartya Sen in Jaipur erzählt hat (hier nachzulesen). Und wir stellen fest, dass Carsten Niebuhr und Reinhold Niebuhr weder verwandt, noch verschwägert sind – oder weiß man es? Zumindest liegt eine Namensgleichheit vor, zufällig.

Am 14.7.2020 wurde in der NZZ das Buch von Kyle Harper, Fatum. Das Klima und der Untergang des Römischen Reiches*, Verlag C. H. Beck, München 2020, besprochen. Darin ist festgehalten, dass die Römer ein Gespür dafür hatten, was sich ihrer Macht und ihrem Einfallsreichtum entzog. Dies spiegelte sich gemäß Harper, „… in ihrer Verehrung der ‚furchtbaren Macht der Göttin Fortuna‘ – sie habe die unbeständige Mischung aus Struktur und Zufall, Naturgesetzen und purem Glück repräsentiert, der jedes Leben unterworfen sei.“

Fest steht: Nicht alle Römer waren Stoiker, aber sie hatten laut Kyle Harper ein Gespür für die Macht des Zufalls. Eignen auch wir uns eine stoische Gelassenheit an.

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#PreppoKompakt

Von dem ehemaligen Sklaven Epiktet lernen, heißt – auch rund zweitausend Jahre später – „siegen lernen“. Oder weniger martialisch formuliert: unsere gegenwärtige Krise mit stoischer Gelassenheit besser zu überstehen. Dank den Stoikern mit Rolf Dobelli. Und auch Schriftstellern, wie Christine Wunnicke, die unseren Alltag bereichern und verschönern.

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