Spitz-findig-keit #164

8 minutes

Spitz oder Spitze sind in aller Regel pointierte Aussagen zum Zeitgeschehen. Dies kann, muss aber nicht die Politik betreffen. Es kann auf die Gegenwart oder auch auf die Vergangenheit gemünzt sein. Spitz ist eine Aussage dann, wenn sie sticht, der betreffenden Person oder Personengruppe wehtut, spitze, wenn sie ausgezeichnet formuliert ist und im Idealfall zudem die Wahrheit abbildet. Fi/ündig, wenn der beschriebene Umstand nicht ganz offensichtlich, also erst zu ergründen ist. Und -keit lässt auf unterschiedliche menschliche Eigenheiten/-schaften schließen, wie beispielsweise Eitelkeit, Heiterkeit, Überheblichkeit oder, oder. Alles zusammengenommen eine echte Spitzfindigkeit. In unserer Kolumne ‚Spitz-findig-keit‘ zitieren wir in lockerer Folge jeweils zwei oder drei Aussagen und verschonen dabei auch nicht klassische Denkerinnen und Denker.

Um Denkanstöße zu geben, die Freude am Formulieren zu wecken – nichtzuletzt auch um dem Humor in unserer doch etwas trostloseren Zeit wieder mehr Geltung zu verschaffen. Erhöht das Wohlbefinden. Packen wir es an! Ich sage nicht, wir schaffen das. Aber wir probieren es auf jeden Fall!

Spitzfindigkeiten zuhauf!

Vorbemerkung

Es gibt nach Immanuel Kant auch eine falsche Spitzfindigkeit, die wir uns hier allerdings nicht zu eigen machen wollen. Wer dem dennoch nachgehen möchte – Die falsche Spitzfindigkeit der vier syllogistischen Figuren – kann dies hier gerne tun.

Heute versuchen wir besser zu ergründen, was echte Liebe ist, was Sinnerfüllung bewirken kann und welche Rolle der Zufall bei alledem spielt (nachdem wir am Zufall schon hier, hier, hier und hier Interesse gezeigt haben).

1. Spitz-findig-keit

„Erotische Liebe ist: Ich will dich haben. Echte Liebe ist: sich kümmern, pflegen, begleiten.“ So bringt es der Paartherapeut Christian Hemschemeier in faz-net vom 20.3.2024 (hinter Schranke) auf den Punkt.

Bei der sogenannten „Liebe auf den ersten Blick“ handele es sich nicht um ein Gefühl, sondern um eine ausgeprägte sexuelle Anziehungskraft. Der Verstand werde ausgeschaltet, „… Neuroscans zeigen im Gehirn von Verliebten ähnliche Zustände, als seien diese auf Drogen.“ Im Spiel sind große Mengen Dopamin, ein Motivationsneurotransmitter, das Bindungshormon Oxytocin sowie Adrenalin und Serotonin. Das Problem ist, dass wenn diese Hormone nach 100 bis 200 Tagen wieder weggehen und der „Rausch“ sein Ende findet, aus der Phantasie Realität werden muss. Deshalb gingen auch die meisten Beziehungen innerhalb des ersten Jahres wieder auseinander. „Damit aus Liebe auf den ersten Blick echte Liebe werden kann … braucht es Zeit und wirkliches Verständnis für den Partner. ‚Wenn man liebt, will man für den anderen das Beste.'“

Keine leichte Aufgabe für Beziehungen, die nicht nur Jahre, sondern Jahrzehnte dauern. Hut ab deshalb vor Eheleuten, die die Goldene (50), Diamantene (60) oder gar Eiserne Hochzeit (65) feiern und sich weiterhin froh in die Augen blicken und in die Arme schließen können. So wie Ingeborg und Karl-Heinz Döbereiner, über die der SchwarzwälderBote gleichen Tags berichtete (hinter Schranke) als in der FAZ der Diplom-Psychologe Hemschemeier zu Wort kam. Für mich nicht nur nette Nachbarn und was die Naturverbundenheit anlangt echte Vorbilder. Hinzu kommt, dass Herr Döbereiner mein ehemaliger Lehrer ist, dem ich die Liebe zur klassischen Musik und vieles mehr verdanke.

2. Spitz-findig-keit

Die NZZ vom 25.4.2024 berichtet darüber, dass sinnerfüllte Menschen gesünder leben, sowohl psychisch als auch körperlich. Das sei, wen wundert es, bis auf die Ebene der Gene, der Hormone, der Neurotransmitter nachweisbar.

Aus zwei Gründen ist das so, erstens: „Wenn ich mein Leben als sinnvoll erachte, dann finde ich auch, es lohnt sich zu leben. Ich sorge eher für meine Gesundheit und gehe ab und zu zum Arzt. Wenn ich Medikamente nehmen muss, dann nehme ich sie. Ich gehe verantwortungsvoll mit Alkohol, Zigaretten, Drogen um, weil ich ja gerne leben möchte. Ist mir das Leben eher egal, dann habe ich keine Motivation, Verantwortung für meine Gesundheit zu übernehmen.“

Und zweitens: „Wer Sinn im Leben sieht, kann besser mit Stress und Leid umgehen. Das sieht man in ganz verschiedenen Bereichen, von Knieoperationen bis zum Umgang mit einer Krebsdiagnose. Sinnerfüllte erleben zwar genauso viel Mist wie andere Leute auch, aber sie leiden nicht so stark darunter. Das zeigt sich sogar auf der körperlichen Ebene. Chronisch Erkrankte, die das Leben als sinnvoll betrachten, weisen zum Beispiel weniger Entzündungsmarker im Blut auf als Erkrankte, die keinen Sinn im Leben sehen.“

Bei sinnerfüllten Menschen kommt hinzu: „Wenn ich mich zum Beispiel für benachteiligte Menschen oder für Umweltschutz einsetze, weil ich das sinnvoll finde, führt das eventuell nicht zu Glücksgefühlen. Manche Handlungen erfordern Überwindung und Mut, vielleicht bin ich dann sogar ängstlich. Und trotzdem finde ich es sinnvoll, das zu tun. Das heisst also, es gehen ganz unterschiedliche Gefühle mit verschiedenen sinnvollen Handlungen einher. Deswegen ist Sinnerfüllung nicht gleichzusetzen mit Glück.“ Sagt die Psychologin Tatjana Schnell.

3. Spitz-findig-keit

DerStandard berichtet am 1.5.2024, dass einen Tag zuvor der US-Schriftsteller Paul Auster im Alter von 77 Jahren an einer Lungenkrebserkrankung gestorben ist. Er wurde 1947 in New Jersey als Sohn eines jüdischen Paares mit österreichischen Wurzeln geboren. Zusammen mit seiner zweiten Frau Siri Hustvedt, einer ebenfalls sehr erfolgreichen Schriftstellerin, lebte der Starautor in Brooklyn. Auch international bekannt wurde er mit seiner New-York-Trilogie* (auf Deutsch verlegt von Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1989, 384 Seiten, als Taschenbuch derzeit nicht verfügbar) mit „Stadt aus Glas“ (1985), „Schlagschatten“ (1986) und „Hinter verschlossenen Türen“ (1987).

Schon im ersten Absatz von „Stadt aus Glas“ fällt, wie Bert Rebhandl festhält, der Satz, „nichts wirklich außer der Zufall“. Dieses Motiv kommt erneut 1990 in „Die Musik des Zufalls“ und erst recht 2017 im Roman „4321„* (auf Deutsch verlegt von Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2018, als Taschenbuch 20 €) zum Zuge. Dreh- und Angelpunkt ist die Erkenntnis, dass ein einzelnes Ereignis den gesamten Lebensweg eines Menschen verändern kann. Beispielsweise wenn man auf einer Party die Liebe seines Lebens kennenlernt, weil sie/er zufällig gegenüber sitzt.

Auster erzählt in 4321 seine eigene, vermengt mit fiktionaler Geschichte. Gekonnt beschreibt er anhand von vier verschiedenen Lebensläufen, wie Zufall und Charakter die Biografie eines Menschen bestimmen. Dem Leser gibt er über viele hundert Seiten hinweg das Rätsel auf, welches die wirkliche, die gelebte Realität des Jungen/Jugendlichen/jungen Mannes Archie Ferguson ist. Was sich zum Ende hin, nachdem der erste 13jährig von einem dicken Ast erschlagen wurde (S. 275), der zweite mit 20 bei einem Verkehrsunfall (S. 1028) und der dritte mit 24 Jahren beim Brand eines Hauses (S. 1255) sein Leben gelassen hat, auch klärt. In dem während eines fünfeinhalb-jährigen Aufenthalts in Paris verfassten Buch – das letztes Wort hat Paul Auster am 25. August 1975 hinzugefügt – heißt es zu den vier Fergusons: „Einer nach dem anderen würde … sterben, … und dann würde er wieder mit sich selbst allein sein, der einzig Übriggebliebene.“

DerStandard hat seinem Artikel ein Kondolenzbuch angehangen, untenstehend einer von insgesamt 112 Einträgen. Schließen uns dem gerne an – Ruhe in Frieden!

Und hier geht es weiter ins Reich der Musik.

#PreppoKompakt

Im Grunde genommen besteht das menschliche Leben aus einer Anhäufung von Zufällen – vom Zeugungsakt bis zur Aufbahrung. Das Ergebnis festgehalten, wie vom Volksmund spitzig formuliert, von der Wiege bis zur Bahre durch Formulare, Formulare. Zur richtigen Zeit am richtigen Ort oder zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein, bestimmt gravierend unser „Schicksal“, positiv oder negativ. Zur richtigen Zeit am falschen Ort oder zur falschen Zeit am richtigen Ort zu sein, macht hingegen keinen großen Unterschied. Mit gesundem Menschenverstand, sinnvollem Handeln und Charakterstärke sind diese dominierenden Alltagssituationen in der Regel einigermaßen gut zu bewältigen.

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Eine Antwort

  1. Die Spitzfindigkeiten gefielen mir heute besonders gut. Das liegt wahrscheinlich an der Thematik, der Liebe und des Zufalls, und an Paul Auster, dessen Romane mich immer beeindruckten und berührten wie jene seiner Frau, Siri Hustvedt, ebenso. Die Liebe macht das Leben lebenswert und bedeutungsvoll, egal was sonst passiert. Paul Auster betont immer wieder was er für ein Glück hatte seiner Frau zu begegnen.

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